Besprechung vom 02.08.2022
Nur nicht in Gefühlen schwelgen
Beredtes Staunen: Pico Iyer fasst seine Erfahrungen mit dem Leben in Japan in konzise Miniaturen.
Der britisch-indische Autor Pico Iyer lebt seit mehr als dreißig Jahren in Japan und hat ein Buch geschrieben, das sein Entzücken darüber ausdrücken soll, dass er mittlerweile "sehr viel weniger" über dieses Land weiß als noch bei seiner Ankunft. Dieses Nichtwissen, das vielmehr ein beredtes Staunen ist, teilt er mit dem Leser in einer Sammlung von Miniaturen. Sie tragen in ihrer deutschen Übersetzung den Titel "Japan für Anfänger", im Original heißen sie präziser "A Beginners's Guide to Japan: Observations and Provocations".
Der Anfänger im Titel ist Iyer selbst, der mit seinen "Provokationen, Eröffnungssätzen" zu "eigenen, besseren Erwiderungen anregen will". Das schließt auch jene Leser ein, die Japan kennen und sich bei der Lektüre ärgern sollen. Es ist also ein interaktives Buch, das auf die stumme oder laut vorgebrachte Gegenrede hin geschrieben ist, ohne allerdings selbst je laut zu sein oder Dinge abschließend festzustellen: "Das Leben in Japan hat mich gelehrt", schreibt Iyer, "öfter 'ich frage mich' zu sagen als 'ich meine'."
Natürlich meint und findet Iyer recht viel, er verkleidet das aber geschickt in konkrete oder abstrakte Beobachtungen. Oft gelingt es ihm in wenigen Zeilen, vom einen ins andere zu gleiten: "So vieles ist verfügbar, kaum etwas ist zu finden", schreibt er. "Man steckt in einer Art lebendig gewordener Webseite - überall ploppen Kästchen und Links auf, die zu einer Kunstgalerie und zur 'Happy Terrace' führen, zum sechsstöckigen Postamt und dreizehnstöckigen Kaufhaus -, aber niemand hat einem das Passwort gegeben."
Iyer umgeht diese Passwörter, indem er verschiedene Perspektiven vorstellt: Er erzählt von seiner Frau Hiroko, die wiederum von ihrer Kollegin erzählt, die jeden Tag zwei Stunden damit verbringe, sich zu schminken. "Damit alle sie ansehen", fragt Iyer. "Nein, damit niemand sie ansieht", antwortet seine Frau. So sei das Make-up "unerlässlich für eine Gesellschaft, in der das öffentliche Gesicht entscheidend ist - und in der es notwendig zum Erhalt einer höheren Harmonie gehört, sich mit allen zu versöhnen". Es ist Teil der täglichen Uniform für den öffentlichen Raum, die samt Make-up umgehend an den Nagel gehängt wird, sobald man sich in den eigenen vier Wänden befindet.
Japan, dieses Motiv nimmt Iyer immer wieder auf, ist ein militärisches Land. Genau darin sieht der Autor eine Möglichkeit zu individueller Freiheit. Er erzählt davon - auch das ein wiederkehrender, aber stets gelingender Trick -, indem er gar nicht von Japan erzählt, sondern beispielsweise von der amerikanischen Militärakademie West Point. Der Westen richtet den mitleidigen Blick gern auf die vielen gesellschaftlichen Zwänge, denen sich Japaner unterordnen. Diesem Eindruck begegnet Iyer ausgerechnet mit einem Zitat eines Kadetten aus David Lipskys West-Point-Betrachtungen "Absolutely American": "Es gibt so viele Zwänge, über die wir uns keine Gedanken machen müssen." Doch in "gewisser Weise ist das Leben hier leicht . . . Die Strukturen sind vorgegeben." Japaner lernen früh, dass es nicht immer an Selbstverleugnung grenzen muss, sich mit den Dingen zu arrangieren. Trotzdem können auch sie daran scheitern.
Für den Autor bedeutet Freiheit "weniger eine Fülle von Wahlmöglichkeiten, sondern vielmehr die Befreiung von der Last einer großen Auswahl". Dennoch beobachtet Iyer zu genau, um zu unterschlagen, dass man sich in Japan selbst trotzdem nicht allzu ernst nimmt. Weil alle dafür "ihre Rollen, die Figuren, die sie im nationalen Schauspiel geben müssen, so überaus ernst nehmen".
Interessant ist die Wirkung von Eindrücken, Anekdoten und Beobachtungen berühmter Menschen, die von Japan erzählen, ohne es direkt beabsichtigt zu haben - Iyer zitiert seitenweise Oscar Wilde, der zwar als erklärter Individualist "kein naheliegender Ratgeber" für Japan sei, jedoch genau verstanden habe, "dass das gesellschaftliche Leben ein Theater ist, in dem die Gefühle äußerst real sind". So mag manch einer die eigene Überzeugung doch wieder in Zweifel ziehen, Japan versuche seit Kriegsende, der bessere Westen zu sein, nur eben mit mehr Disneyland und Kawaii. Doch durch Iyer kommt man dem, was das Spezielle, das andere an diesem Land sein könnte, wieder auf die Spur. "Junge Gesellschaften", schreibt Iyer, "misstrauen allem Künstlichen; ältere - und nur wenige sind erfahrener als Japan - wissen, dass uns, in einer Welt, in der Schmerz nie fern ist, womöglich nur das Künstliche bleibt." Auch so wird Völkerverständigung möglich: nicht über das individuelle Gefühl, sondern über das Protokoll, das jeder ernst nimmt, in dem er sich selbst nicht so ernst nimmt. AXEL WEIDEMANN
Pico Iyer: "Japan für Anfänger".
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Berenberg Verlag, Berlin 2022. 224 S., geb.
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