Besprechung vom 04.08.2024
Die Entdeckung der Langsamkeit
Stefan Geyer geht spazieren, weil man dann mehr sieht als vom Fahrrad aus. In "Der Stadtwanderer" hat er seine Beobachtungen und Erlebnisse aufgeschrieben.
Von Florian Balke
Früher fuhr er gern Fahrrad. Eines Tages aber regnete es besonders stark, also nahm Stefan Geyer zwischen seiner Wohnung in Bornheim und seinem Arbeitsplatz bei Suhrkamp im Westend die U-Bahn. Und landete auf der Konstablerwache mitten im Erzeugermarkt, der ihn so faszinierte, dass er länger blieb. Er trank einen Schoppen und aß eine Bratwurst: "Dort bin ich dann immer zu Fuß hingegangen."
Das Konstablerwache-Erlebnis hat aus dem Fahrradfahrer einen Fußgänger gemacht. Seitdem hat Geyer sich Frankfurt und Umland vor allem als Spaziergänger erschlossen. Aus seinen Erlebnissen und Beobachtungen hat er ein Buch gemacht, vor Kurzem ist "Der Stadtwanderer" im Verlag Henrich Editionen erschienen. "Frankfurt anders entdecken" heißt der Band im Untertitel. Anders, das heißt langsamer, bewusster, zu Fuß. "Gehen ist eine ganz tolle Sache", sagt Geyer im Café des Historischen Museums, in dem er gern Station macht: "Ich kann es jedem nur empfehlen."
Er hat sich schon immer gern bewegt. Eigentlich sei er, der mit dem Fahrrad in den Frankreich-Urlaub fuhr, zehn Alpenpässe überwand und drei Halbmarathons absolviert hat, mit dem Gehen etwas zurückgefallen. Aber es tue seiner Psyche gut, seinem Kopf.
Zur Welt gekommen ist er 1953 in Ratingen, als Kind zog er mit seinen Eltern oft um. Er lebte in Köln bei seinen Großeltern, ging in Frankfurt-Sachsenhausen zur Schule. "Die Umzieherei war grausam", sagt er: "Ich bin ausgezogen, als ich noch nicht volljährig war." In Schwäbisch Gmünd machte er die Fachhochschulreife und studierte, 1976 zog er nach Berlin und machte eine Buchhändlerausbildung. Zunächst arbeitete er dort in einem kleinen Laden, dann im damals größten der Stadt, Kiepert am Ernst-Reuter-Platz.
Zur Jahrtausendwende hatte er von der Hauptstadt die Nase voll. Im "Börsenblatt" sah er eine Stelle in der Verkaufsabteilung des Suhrkamp-Verlags in Frankfurt, er bewarb sich und wurde eingestellt. Zuvor waren seine Kunden die Leser gewesen, nun waren es die Buchhändler, die sich freuten, in ihm jemand zu haben, der wusste, wovon er sprach.
Als den Mitarbeitern des Verlags im Frühjahr 2009 auf einer "sehr turbulenten" Betriebsversammlung mitgeteilt wurde, Suhrkamp ziehe nach Berlin, wollte Geyer zunächst mit zurück in die alte Heimat gehen. Er hatte auch schon eine schöne Wohnung in Aussicht, für die er anderen Bewerbern vorgezogen worden war, weil er Suhrkamp-Angestellter war, entschied sich dann aber doch dafür, in Frankfurt zu bleiben. Er erklärt es sich so: "Ich war ein bisschen frühkindlich traumatisiert gegen vorgeschriebene Umzüge." Außerdem sei ihm klar geworden, dass er, ohne es zu merken, zum Frankfurter geworden war.
Wäre er mitgegangen, bezöge er heute eine höhere Rente. "Aber mir sind tolle Dinge passiert", sagt er. Ohne das Zurückbleiben in Frankfurt hätte er wahrscheinlich nie ein Buch veröffentlicht. Stattdessen gab er für den Fischer-Verlag eine Anthologie über Spaziergänge heraus, der später eine über Eisenbahnen folgte, und veröffentlichte bei Waldemar Kramer zusammen mit Jürgen Roth einen Band über "Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten". Den gelungenen Ausdruck ließ er sich beim Patentamt München eigens als Wortmarke schützen, für damals 290 Euro. Nicht dass es etwas gebracht hätte, wie er lachend anmerkt. Aber auch das zählt für ihn zu den kleinen Abenteuern des Wegs, den er in Frankfurt beschritt. Für die "Wegsehenswürdigkeiten" schrieb er über den Roßmarkt, für das gemeinsam mit Andrea Diener herausgegebene Apfelwein-Buch "Stöffche", 2020 bei Henrich Editionen erschienen, verfasste er weitere Texte. Aus dem Buchhändler, Verlagsangestellten und Herausgeber wurde allmählich ein Autor.
Auch seine Verwandlung in einen Spaziergänger hat neben dem Innehalten auf dem Erzeugermarkt literarische Wurzeln. Bis vor ein paar Jahren half Geyer Suhrkamp vor Beginn der Frankfurter Buchmesse beim Aufbau des Messestands, an Altbier und Brezeln nebenan beim Magazin "Buchmarkt" denkt er gern zurück. Bei einer dieser Gelegenheiten schnappte er sich "Gehen, weiter gehen", einen bei Insel erschienenen Band des norwegischen Autors Erling Kagge, und las sich fest: "Er schreibt über das Gehen und was es ihm bedeutet." Geyer war begeistert. Das Buch lieferte ihm die Deutung für das, was ihn am Spazierengehen zu faszinieren begonnen hatte.
Als er es ausgelesen hatte, dachte er sich: "So, morgen gehst du zu Fuß in die Nationalbibliothek." Ihr Sitz an der Adickesallee ist einer seiner Frankfurter Lieblingsorte. Er suche die Bibliothek auch auf, wenn er nichts zu tun habe: "Ich schaffe dort in zwei Stunden mehr als den ganzen Tag zu Hause." Geyer wohnt im Osten Bornheims am Ernst-May-Platz, von dort kommt man auch mit Bus oder Bahn zur Adickesallee, mit dem Fahrrad ohnehin. Welcher Städter legt diese oder eine vergleichbare Strecke heute schon zu Fuß zurück? Vor dem Aufbruch sei er daher ganz aufgeregt gewesen, erinnert Geyer sich. Es sei ihm vorgekommen, als wage er sich in unbekanntes Terrain. Aber er genoss die Erfahrung: "An dem Tag wurde ich endgültig Fußgänger. Und das Fahrrad blieb immer öfter im Keller."
Der "Stadtwanderer" ist aus seinen Gängen im Laufe der vergangenen Jahre entstanden. Er hatte begonnen, ein Spaziergangstagebuch zu führen, das er als Blog veröffentlichte, "bewusst skizzenhaft und fragmentarisch", wie er sagt. Das war die Grundlage. Im Oktober 2023 schloss er auf der Buchmesse am Hessischen Gemeinschaftsstand den Buchvertrag mit seiner Verlegerin Cristina Henrich-Kalveram.
Sein Buch versammelt ältere und neue Routen, gern draußen im Grünen, genauso gern mitten durch den Beton, den Asphalt und die Lichter, durch die Stadt, wie sie ist. Er folgt dem Hölderlinpfad, der Mainzer Landstraße und dem Oeder Weg, macht sich auf in die Schwanheimer Dünen und bei Regen nach Offenbach. Er sieht hin, horcht in sich hinein, schreibt auf: hier die kleine Szene, das Hässliche und das Schöne, die Landschaft und der Stadtraum, dort das Soziale, eine kleine Geschichte. "Das Offensichtliche interessiert mich nicht", sagt er. Am wichtigsten ist ihm in all den Jahren die Abwechslung geworden. "Ich kann nicht sagen, dass Frankfurt eine schöne Stadt ist." Umso mehr gefallen ihm die Kontraste: "Jeder Spaziergang ist ein guter Spaziergang."
Wenn er unterwegs ist, hat er ein Notizbuch dabei. Dialoge, die er aufschnappt, notiert er sich sofort, "das vergesse ich sonst". Davon abgesehen, sind die Texte erwanderte Schnappschüsse, mit zahlreichen Handyfotos als Gedächtnisstütze. Im Wesentlichen formuliere er den Text aber schon während des Gehens: "Zu Hause ist er im Groben fertig." Schnell wird er niedergeschrieben, dann wird gestrichen: "Ich mag keine überflüssigen Sachen."
Auch in Städten wie New York, Madrid, Barcelona und Istanbul hat Geyer in den vergangenen Jahren auf U-Bahn, Bus und Straßenbahn weitgehend verzichtet. In Berlin bewegt er sich ohnehin nur noch zu Fuß fort: "Letztes Mal 28 Kilometer." Das könne man dann vielleicht auch als Flanieren bezeichnen, sagt er: "Weil man da ziellos herumgeht." In Frankfurt, hebt er hervor, sei er kein Flaneur, ein Ziel sei immer vorhanden.
Zum Schluss des Buches kokettiert Geyer mit einem schmerzenden Knie und einem möglichen Umstieg zurück auf das Fahrrad. Aber der Inhaber seiner Lieblingskneipe, der "Mosaik Jazz Bar" an der Ecke Freiligrathstraße und Fechenheimer Straße, "mit einem wunderbaren kleinen Gärtchen und einem liebenswerten Wirt", hat ihm geraten, er solle Rizinusöl kaufen und es einmassieren. Das hat geholfen. Jetzt hat er zunächst eine Pause gemacht. "Aber ich werde nicht aufhören." Die nächsten Ziele sind bald gefunden: "Wenn ich gehe, geht's mir gut."
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