Besprechung vom 17.03.2024
Frauen im Kreuzverhör
In Suzie Millers "Prima Facie" wird eine Anwältin, die erfolgreich Angeklagte in Sexualstrafverfahren verteidigt hat, selbst zum Opfer einer Vergewaltigung.
Von Simona Pfister
Nur etwa ein Prozent der Frauen, die in Deutschland vergewaltigt werden, sehen den Täter vor Gericht verurteilt. Sehr viele scheuen sich davor, den Übergriff überhaupt anzuzeigen, und wenn sie es dann doch tun, endet der Gerichtsprozess meist mit einem Freispruch für den Vergewaltiger. Woran das liegt, will die australische Theaterautorin Suzie Miller in ihrem ersten Roman "Prima Facie" zeigen. Dessen Protagonistin Tessa Ensler ist ausgerechnet Strafverteidigerin, die sich einen Namen damit gemacht hat, Angeklagte in Sexualstrafverfahren freizukriegen. Gleich zu Beginn des Buches demonstriert sie ihr Talent, ein Gewaltopfer im Kreuzverhör als unglaubwürdig darzustellen. Doch dann gerät eine Verabredung mit ihrem vornehmen Anwaltskollegen Julian außer Kontrolle, er vergewaltigt Tessa in ihrer eigenen Wohnung. Von da an verfolgt man, mit welchen Abgründen sich Tessa bei der Anzeige und im Gerichtssaal konfrontiert sieht, und wie sich dabei sämtliche Annahmen, die sie über das Justizsystem und auch über sich selbst getroffen hat, Stück für Stück in Luft auflösen.
Inhaltlich deckt sich "Prima Facie" weitgehend mit Millers gleichnamigen Theaterstück, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Doch viele Stärken des Dramas gehen im Roman verloren. Das fängt schon mit der Erzählstimme an: Im One-Woman-Bühnenstück erzählt Tessa dynamisch und schlüpft in alle Rollen. Im Roman wirkt die direkte Anrede wie ein Selbstgespräch. Auch die nun deutlicher ausgearbeitete Hintergrundgeschichte Tessas und die Dialoge wirken oft ungelenk und enthalten viele Wiederholungen.
Besonders störend ist aber, wie jede Gefühlsregung Tessas erklärt und ausgewalzt wird, meist plump, oft widersprüchlich. Dabei geht nicht nur die Subtilität verloren; die Ambivalenz, die die Figur der Tessa so stark machen könnte - von der Verteidigerin zur Angegriffenen, von arm zu reich, von tougher Anwältin zu einer an sich zweifelnden Frau - und die auf der Bühne durch verschiedene, sich schnell abwechselnde Tonlagen und Sprechweisen zur Geltung kommt: Sie wird im Roman durch oft floskelhafte Erklärungen geradezu plattgewalzt.
Erst mit und nach der Vergewaltigung kommt der Text paradoxerweise zur Ruhe, wird konzentrierter und klarer. Miller gelingt es hier, den Leserinnen nahezubringen, wie sich die Minuten, Stunden, Tage nach der Vergewaltigung für Tessa anfühlen, wie sie sich Vorwürfe macht, wie sie sogar ihrer eigenen Erinnerung misstraut, wie sie mit sich ringt, ob sie Julian anzeigen will - sie weiß ja, wie niedrig die Verurteilungsrate ist und was eine Anzeige bedeutet: Sie muss ihre Vergewaltigung immer und immer wieder schildern, zuerst bei der Polizei, dann im Krankenhaus und schließlich vor Gericht, wo sie nicht mehr als Verteidigerin, sondern als Zeugin auftritt.
Dabei erkennt Tessa auf unangenehmste Weise, dass das Justizsystem nicht neutral zwischen zwei Versionen einer Geschichte entscheidet, wie sie es sich früher als Verteidigerin in einer Art vorauseilenden Entschuldigung selbst erzählte, sondern die meist weiblichen Opfer einer Vergewaltigung dadurch benachteiligt, dass diese vor Gericht als Zeuginnen der Anklage aussagen müssen und daher einem Kreuzverhör ausgesetzt sind, während die meist männlichen Täter als Angeklagte von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen können. Es ist also gewissermaßen das Opfer, das sich verteidigen muss, und nicht der Täter. Weil sich aber stets Ungereimtheiten in der Erinnerung eines Menschen finden lassen, insbesondere bei einem traumatisierten Vergewaltigungsopfer - "Wir Menschen denken alle, die Wahrheit über unsere Leben zu kennen, aber wir alle machen Fehler", sagte Tessa zu Beginn einmal -, ist es ein Leichtes, die Zeugin als unglaubwürdig und damit den Angeklagten als unschuldig erscheinen zu lassen. Konsequenterweise stellt der Moment dieser Erkenntnis den zeitlichen Angelpunkt der Erzählung dar: Alle Kapitel, die früher spielen, sind mit "davor" oder "damals" überschrieben, alles, was danach folgt, mit "später".
Bevor Miller 2010 beschloss, Theaterstücke zu schreiben, beriet sie als Anwältin Opfer von sexuellen Übergriffen. Mit den hohen Fallzahlen und den niedrigen Verurteilungsraten konfrontiert, sei ihr auf einmal klar geworden, dass die geltende Strafprozessordnung geradezu verhindere, dass Frauen Übergriffe anzeigen und Täter verurteilt werden. "Das ganze Rechtssystem wurde von Generationen von reichen, weißen, heterosexuellen Männern geformt, die ein Interesse daran haben, solche Fälle von ihrer Seite aus zu sehen. Nichts in der Justiz geht aber von der gelebten Perspektive der Frauen aus", sagte die heute 60-jährige Autorin in einem Interview. Deswegen hätte sie beschlossen, darüber zu schreiben.
So wichtig dieses Vorhaben und Millers Hinweise sind, so wenig überzeugt die Prosaumsetzung des Stoffes. Man merkt dem Text von Beginn an sein Ziel allzu deutlich an, und am Ende verfällt er wieder in das Muster des Anfangs, wenn Tessa im Gerichtssaal eine seltsam gekünstelte und überdeutliche Rede hält. Nach der Lektüre wünscht man sich, anstatt des Romans schlicht den Theatertext in Buchform gelesen - oder aber auf die Filmversion gewartet zu haben: Miller hat ihr Stück auch noch für die Leinwand adaptiert; Cynthia Erivo ("Harriet") soll die Rolle der Tessa spielen.
Dennoch gelingt es Miller, mit "Prima Facie" auf zentrale Probleme der Strafprozessordnung hinzuweisen, wenn es um Sexualdelikte geht. Lösungen liegen zwar nicht auf der Hand, da die Unschuldsvermutung gilt, aber immerhin ließe sich die fortgesetzte Retraumatisierung der Opfer mit konsequenten Videovernehmungen verhindern. Der Erfolg des Theaterstücks hat in England bereits Reformen in diese Richtung angestoßen. Und wer weiß, welche Diskussionen das Buch in Deutschland entfacht. Literarisch aber fällt es ab.
Suzie Miller: "Prima Facie". Roman. Aus dem Englischen von Katharina Martl. Kjona Verlag, 352 Seiten
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