Vor 75 Jahren wurden zwei deutsche Staaten gegründet. Ursula Weidenfeld legt eine Geschichte des doppelten Deutschland vor, wie sie so noch nicht geschrieben wurde. Bisher gibt es, zumindest in der westdeutschen Erinnerung, die Bundesrepublik (oder ganz einfach: «Deutschland») und daneben die DDR, üblicherweise als der «zweite deutsche Staat» bezeichnet. Deren Geschichte wird immer von hinten erzählt, vom Ende her - das ist die übliche Strafe für gescheiterte Staaten. Dagegen wird die Geschichte Westdeutschlands von Beginn an geschrieben, ihre Eckpunkte sind die Eckpunkte «Deutschlands» von der Staatsgründung bis heute. Diese Sichtweise aber ignoriert das Offene in der Entwicklung beider politischer Systeme.
Ursula Weidenfeld macht es deshalb anders: Sie schildert eine einzigartige Parallel- und Wettbewerbssituation, in der sich zwei Staaten wie die beiden Teile eines Magneten gleichzeitig anzogen und abstießen. Diese beiden Länder einander gegenüberzustellen, sie miteinander und nebeneinander zu betrachten, ergibt eine neue deutsche Geschichte von 1949 bis heute. Gerade weil es keine oder nur wenige gemeinsame Erinnerungen gibt, ist das eine besondere Herausforderung. Ursula Weidenfeld stellt sich ihr und öffnet so einen neuen Blick auf das doppelte Deutschland.
Besprechung vom 19.02.2024
Die Last der deutschen Geschichte
Das Nebeneinander zweier Staaten bis zur Einheit
Die Journalistin Ursula Weidenfeld hat schon für die Wirtschaftswoche und den Berliner Tagesspiegel gearbeitet und wurde 2007 mit dem Ludwig-Erhard-Preis ausgezeichnet. In ihrem neuen Buch befasst sie sich mit dem Nebeneinander und der Rivalität beider deutscher Staaten, die nach der Katastrophe des Dritten Reiches und des verlorenen Weltkrieges 1949 gegründet wurden. Die Ausgangslage war materiell und moralisch verheerend: Bis zu neun Millionen Deutsche waren im Krieg umgekommen. Etwa 10 Millionen Flüchtlinge lebten in den vier Besatzungszonen. Die Sieger hofften auf Reparationen und demontierten, was sie brauchen konnten. Die Besiegten hungerten und froren. Der Osten, die spätere DDR, hatte nach Weidenfeld zwar weniger materielle Kriegsschäden erlitten als der Westen, trug aber mit rund der Hälfte die Hauptlast der Demontage: Die hörte zuerst in der amerikanischen und zuletzt in der sowjetischen Zone auf. Obwohl Deutsche auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs an den Staatsgründungen wesentlich beteiligt waren, vor allem Adenauer und Ulbricht, waren letztlich die Siegermächte, vor allem die beiden Supermächte, entscheidend für die Westorientierung des einen und die Ostorientierung des anderen Staates.
Im Westen ging es mit der Währungsunion und Erhards Freigabe vieler Preise langsam bergauf, wenn es auch kleinbürgerlich, materialistisch und restaurativ zuging. Im Osten wollte man das bessere Deutschland schaffen, zunächst mit halbwegs inklusiver Fassade, aber von Anfang an unter strenger Kontrolle der Partei. Als sich im Westen die Vorboten des Wirtschaftswunders abzeichneten, wurde im Osten gleichzeitig kollektiviert und noch demontiert. Nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 musste die Sowjetunion einsehen, dass der Frontstaat DDR nur bei besserer Versorgung mit Konsumgütern und einhaltbaren Arbeitsnormen eine Chance im Wettbewerb mit der BRD hatte. Statt Demontage brauchte die DDR Subventionen, etwa über günstige Rohstoffpreise. Das reichte allerdings nie. Der Westen lockte. Millionen liefen der DDR davon. Da half nur der Bau der Mauer am 13. August 1961. Die Amerikaner nahmen das hin, weil sie die Eskalation scheuten und die Sowjets die Rechte der westlichen Sieger in Westberlin respektierten. Die Bevölkerung im Osten erkannte, dass die DDR alternativlos war. Obwohl der Lebensstandard der Menschen in der DDR langsam stieg, scheiterten alle Reformversuche dabei, die DDR ökonomisch attraktiv zu machen.
Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurde zwar der Ostblock stabilisiert, aber die Hoffnungen auf politische Verbesserungen wurden immer geringer. Im wohlhabenden Westen kam es zu Studentenunruhen und einer politischen Verschiebung nach links, bald auch im Kanzleramt. Weil sich die BRD längst mit den Europäischen Verträgen und der NATO-Mitgliedschaft fest im Westen verankert hatte, schien die deutsche Frage auf Basis des Status quo gelöst zu sein. Im Westen nahm man die Ereignisse im Osten immer weniger wahr. Zwar gab es noch Pakete zwischen beiden Teilen Deutschlands, die auch bis zu ein Drittel des Kaffeebedarfs oder zwei Drittel des Kakaobedarfs in der DDR deckten, aber die Entfremdung war nicht aufzuhalten.
Weil über Radio und Fernsehen der Westen in vielen DDR-Wohnzimmern präsent war, destabilisierten Westwohlstand und Westwährung (für die man in Intershops Westwaren kaufen konnte) das Vertrauen der Menschen in die SED und ihren Staat. Nur im Sport, bei den Olympischen Spielen in den 1970er- und 1980er-Jahren, konnte die DDR auftrumpfen und den Stolz ihrer Bürger auf das eigene Land nähren. Bemühungen, durch Erinnerungen an Preußen oder Luther die DDR-Bindung der Menschen zu stärken, waren weniger erfolgreich. Die Ausbürgerung oder Ausreise prominenter Kulturschaffender delegitimierten die DDR ebenfalls.
Hinzu kam der wirtschaftliche Verfall, den auch Westkredite oder der Verkauf von politischen Gefangenen an die BRD für 3,5 Milliarden Mark nicht aufhalten konnten. Nach Gorbatschows Reformen wusste die SED-Führung nicht mehr, wofür sie noch Rückendeckung in Moskau hatte. Die letzten Schritte auf dem Weg zur Einheit waren 1989 die Montagsdemonstrationen in Leipzig, der Fall der Mauer, dann die Währungsunion und der Beitritt zur Bundesrepublik. Die ostdeutsche Bevölkerung hatte die Entwicklung vorangetrieben, aber das Steuer haben Politiker im Westen übernommen. Nach der Einheit kamen sich viele Ostdeutsche wie in einem bösen Traum vor. Sie mussten eine Entwertung ihrer Qualifikation hinnehmen. 40 Prozent der Erwerbstätigen waren einmal in den ersten vier Jahren arbeitslos, zwei Drittel mussten den Arbeitsplatz wechseln. Leitende Positionen im Osten wurden und werden vielfach mit Westdeutschen besetzt. Auch das führte zu Frust und Enttäuschung.
Weil die Westdeutschen immer viel weniger über den Osten wussten als die Ostdeutschen über den Westen, kann Ursula Weidenfelds Buch eine in ihren Auswirkungen bedauerliche Wissenslücke schließen. Vielleicht hat sie die seit Mises und Hayek bekannten Gründe für die Schwächen der Planwirtschaft nur deshalb nicht klarer herausgearbeitet, um nicht den unglücklichen Triumphgefühlen des Westens noch mehr Nahrung zu geben. Vor allem für jüngere Menschen und Westdeutsche ist Weidenfelds Werk das richtige Buch zur richtigen Zeit. ERICH WEEDE
Ursula Weidenfeld. Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949-1990. Rowohlt, Berlin 2024, 416 Seiten
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