Besprechung vom 02.09.2024
Zynismus? Realität!
Ross Thomas' Klassiker in neuer Übersetzung
Bei Ross Thomas weiß man schon nach dem ersten Satz, worauf man sich einlässt: "Das Debriefing dauerte zehn Tage in einer abgeriegelten Suite in der alten Sektion des Letterman General Hospital der Army auf dem Presidio in San Francisco, und als es beendet war, galt das auch für meine Karriere - falls man sie so nennen konnte." Der Mann, dessen Arbeit als Spion dergestalt abgewickelt wird, trägt den schönen Namen Lucifer Clarence Dye und kann eigentlich nichts dafür, dass einer seiner Kontaktmänner in Asien vor seinen Augen bei einem falsch verkabelten Lügendetektortest gegrillt wurde.
Den Rausschmiss aus seiner Abteilung nimmt er dennoch mit Gleichmut, steht doch kurz darauf in feinsten Zwirn gewandet ein gewisser Victor Orcutt in Dyes Hotelzimmer und unterbreitet ihm ein unmoralisches Angebot: Lucifer soll die texanische Stadt Swankerton korrumpieren. Nicht dass es dafür viel brauchte, wie er schnell feststellen muss. Den Bürgermeister hat die Mafia in der Tasche, auch der Polizeichef nimmt jedes Bestechungsgeschenk an, bleibt nur noch die Frage, wer hier im Hintergrund eigentlich die Fäden zieht.
Der Amerikaner Ross Thomas (1926 bis 1995) pflegte darauf zu verweisen, dass er nur über das schreibe, was er selbst in den Hinterzimmern der Macht mitbekommen habe. Als Figuren treten bei ihm Journalisten, Politiker und Gauner auf. So vielfältig wie die Milieus, in die er blickt, war auch seine Berufserfahrung: Thomas reiste als PR-Spezialist durch die Welt, arbeitete als Journalist in Bonn und besuchte als Gewerkschaftssprecher nicht nur amerikanische Orte, sondern auch Nigeria. Außerdem unterstützte er als Wahlkampfmanager und Berater den demokratischen Politiker und späteren US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Sein Insiderwissen prägt den Ton seiner Politthriller - klar, hart und immer mit einer Spur bösem Lächeln auf den Lippen.
Der Zynismus basiere lediglich auf der Realität, erklärte Thomas gern und ließ seine Hauptfiguren weiterhin sprechen, als seien sie die humorvolleren Cousins von Dashiell Hammetts Sam Spade oder Raymond Chandlers Philippe Marlowe. Wenn Lucifer Dye jemanden beschreibt, dann klingt das so: "Er lächelte viel, aber das hatte nichts zu bedeuten, und ich hatte den Eindruck, genau so würde er lächeln, wenn ein Hund überfahren würde." Einen anderen charakterisiert er als einen großen jungen Mann "mit der Haltung eines Fragezeichens und ein paar interessanten Narben im Gesicht, die aussahen, als wären sie dort mit einer Nähmaschine angebracht worden". Und nach einem Treffen mit seinen neuen Auftraggebern verdaut er die Informationen, "als wären sie ein halbes Dutzend Austern, die schon etwas zu lange das Meer verlassen hatten".
All das klingt in "Die Narren sind auf unserer Seite" auch so hübsch elegant wegen der neuen deutschen Übersetzung von Gisbert und Julian Haefs. Denn wie schon in den vorangegangenen Bänden dieser so überaus verdienstvollen Werkausgabe hat der kleine Berliner Alexander Verlag auch diesen Roman noch einmal komplett aus dem Amerikanischen übertragen lassen; bislang lag das Buch nur in einer um mehr als die Hälfte gekürzten Fassung unter dem Titel "Unsere Stadt muss sauber werden" aus dem Jahr 1972 vor.
Die Lektüre lohnt auch, weil die Figuren bei Thomas so viel wacher sind als die meisten Menschen, die man heute trifft. Wann lief einem denn zum letzten Mal ein Mittzwanziger über den Weg, der sein Handeln bis zur letzten Konsequenz durchdenkt, von den Folgen niemals überrascht ist und im Gespräch jeden Anwurf pariert, weil er im Kern seiner Persönlichkeit so gefestigt ist, dass ihm keine Beleidigung etwas anhaben kann? Man folgt diesen Typen gern mehrere Jahrzehnte und über zwei Kontinente. Dye erzählt seine Lebensgeschichte, vom Aufwachsen als Waise in einem asiatischen Bordell bis zum Eintritt ins Spionagegeschäft. Die Erzählstränge verwickeln sich, springen zwischen der Vergangenheit und den Geschehnissen in Swankerton. Hier in Texas wird alles zusammenlaufen. Aber da hegt man bereits so große Sympathien für Dye, dass man auf das bestmögliche Ende für ihn hofft. MARIA WIESNER
Ross Thomas: "Die Narren sind auf unserer Seite". Thriller.
A. d. Amerikanischen von Gisbert und Julian Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2024. 584 S., br.
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