Besprechung vom 16.03.2024
Der Stachel im Fleisch
Von Ende 1947 an wurde der erste israelisch-arabische Krieg ausgekämpft, dessen Folgen bis heute den Nahostkonflikt nähren. Der israelische Historiker Benny Morris hat ihm eine umfassende Darstellung gewidmet, die nun auch auf Deutsch vorliegt.
Von Thomas Thiel
Vieles von dem, was man über den israelisch-arabischen Krieg von 1947 bis 1948 weiß, das weiß man von Benny Morris. Umso erstaunlicher, dass das vor fünfzehn Jahren erschienene Standardwerk, das der israelische Historiker über den ersten Krieg zwischen Juden und Arabern schrieb, erst jetzt auf Deutsch vorliegt ("1948. Der erste arabisch-israelische Krieg", Hentrich & Hentrich Verlag). Die in Oldenburg ansässige Gesellschaft für kritische Bildung gab dazu den Anstoß. Die in angenehm nüchternem Duktus geschriebene Darstellung ist geeignet, manches Vorurteil über den Nahostkonflikt zu entkräften.
Morris, der bis zu seiner Emeritierung an der Ben-Gurion-Universität des Negev lehrte, gehörte zur losen Gruppierung der Neuen Historiker, die in den Achtzigerjahren die klassische zionistische Geschichtsschreibung auf der Basis neu zugänglicher Akten erschütterten. Im Kern ging es um die bis heute umstrittene Frage, wie es dazu kam, dass zwischen 1947 und 1949 rund 700.000 palästinensische Araber das heutige Israel verließen. Nach der gängigen Deutung hatten die arabischen Führer sie dazu aufgefordert, weil sie meinten, nach dem Sieg der arabischen Armeen problemlos dorthin zurückkehren zu können.
Morris zeigte nun in mehreren Büchern, dass Israel an dieser Flucht nicht unschuldig war. Ein Teil der Araber floh nach seiner Darstellung aus eigenem Entschluss unmittelbar mit dem Einsetzen der Kampfhandlungen aus Furcht vor dem Krieg. Der kleinere Teil der Flüchtlinge gehe auf Vertreibungen durch lokale israelische Kommandeure zurück. Nach Morris gab es für die Vertreibung genauso wenig einen zentralen Befehl, wie es innerhalb der zionistischen Führung einen lang gehegten Plan zur Vertreibung der Araber gegeben habe. Die Vertreibungen gingen unmittelbar aus dem Kriegsgeschehen hervor. In erster Linie war die Flucht eine Reaktion auf die von arabischer Seite begonnenen Kämpfe. Wenn es auf israelischer Seite zu mehr Gewalt an Zivilisten kam als auf arabischer, dann liegt das nach Morris vor allem daran, dass die israelische Armee deutlich mehr arabische Dörfer und Siedlungen eroberte als umgekehrt.
Es stimmt allerdings auch, dass die jüdische Seite kein Interesse daran hatte, die fliehenden Araber zurückzuhalten. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr sah Israel die Chance, sein Staatsgebiet über die Grenzen des UN-Teilungsplans vom November 1947 auszudehnen, und desto mehr wurden die dort lebenden Araber als Störfaktor und Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Außerdem wollte man Platz für neue Einwanderer schaffen, insbesondere für die rund 850.000 Juden, die im Zuge des Kriegs aus arabischen Ländern fließen mussten.
Es kam zu Massakern. Mehrere Hundert Dörfer wurden von der israelischen Armee niedergewalzt, Palästinenser wurden beim Rückkehrversuch erschossen. Die Gewalt kam allerdings von beiden Seiten. Auch die ägyptische Armee zerstörte bei ihrem Vormarsch auf israelisches Territorium nach Morris' Darstellung jüdische Siedlungen, und arabische Führer hätten zu Kriegsbeginn klar das Ziel zu erkennen gegeben, den jüdischen Staat im Keim zu vernichten. Die dort lebenden Juden mussten im Fall einer Niederlage mit dem Schlimmsten rechnen.
Die Thesen von Morris provozierten bei Erscheinen seines ersten Buchs "The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947-1949" (1987) erbitterten Widerspruch unter israelischen Historikern. Morris wurde als linker Israelhasser beschimpft, zeitweise hatte er es schwer, in Israel eine akademische Anstellung zu finden. In den folgenden Jahren wurde sein Blick auf die palästinensischen Araber und deren Friedensbereitschaft jedoch skeptischer. Nach dem Blutrausch der zweiten Intifada vollzog er eine spektakuläre Wende. Er warnte nun vor einem neuen Holocaust und verteidigte die Vertreibungen von 1948 als Akt der Notwendigkeit. Seine politischen Äußerungen schossen teils über das Ziel hinaus, was aber nicht auf seine historischen Arbeiten abfärbte.
Das Buch über den Palästinakrieg fällt in die zweite Phase von Morris' Werk, als die Neuen Historiker längst unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Von Avi Shlaim oder dem BDS-Aktivisten Ilan Pappé trennt Morris beispielsweise die Sicht, die arabischen Staaten hätten nach dem Waffenstillstand kein Interesse an einem Friedensschluss mit Israel gehabt, sondern rhetorisch und gedanklich schon den nächsten Krieg vorbereitet. Shlaim und Pappé behaupten dagegen, Syrien, Ägypten und Jordanien hätten klar dokumentierte Friedensabsichten geäußert, die Israels Staatspräsident Ben-Gurion jedoch ausgeschlagen habe, weil sie Verzicht auf Land und die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge bedeutet hätten. Unkommentiert lässt Morris die Behauptung seiner vom ihm wenig geschätzten Kollegen, Jordanien und Israel hätten sich vor dem Krieg in einem heimlichen Abkommen darüber verständigt, das Westjordanland dem jordanischen Königreich zu überlassen, wenn es den syrischen und irakischen Vormarsch blockiere - also nicht, wie es der UN-Teilungsplan vorsah, den dort lebenden Arabern.
Auf arabischer Seite stieß der UN-Teilungsplan, der beiden Parteien das Recht zur Staatsgründung gab, auf wütende Ablehnung. Palästinensische Milizen griffen den Jischuv, die jüdische Gemeinschaft in Palästina, schon am Tag nach der Verkündung am 30. November 1947 an. Angespornt von der Gewissheit, dass ihm im Fall einer Niederlage die Vernichtung drohte, setzte sich der schwach gerüstete Jischuv entschlossen zur Wehr und schlug zunächst die palästinensischen Milizen und später die Armeen von fünf arabischen Staaten zurück. Viele hatten nicht vergessen, dass der palästinensische Großmufti während des Weltkriegs im Einvernehmen mit Adolf Hitler den Judenhass im Nahen Osten verbreitet hatte. "War es vernünftig, von Israel zu erwarten, dass es seinen selbst erklärten Todfeinden große Zugeständnisse macht?", fragt Morris trocken.
Wie war es möglich, dass sich rund 650.000 in Palästina lebende Juden gegenüber 1,2 Millionen palästinensischen Arabern und den Armeen von fünf arabischen Staaten, die am 15. Mai 1948, direkt nach der israelischen Staatsgründung, in den Krieg eintraten, als überlegen erwiesen? Häufig wurde der Krieg als Kampf des jüdischen David gegen den arabischen Goliath gedeutet. Das war nur deshalb übertrieben, weil die faktische Unterstützung der Palästinenser durch die arabischen Staaten weit hinter der martialischen Rhetorik zurückblieb. Die Arabische Liga hatte sich früh darauf geeinigt, die Errichtung eines jüdischen Staates als Angriff auf die gesamte arabische Welt zu bewerten. Parallel schworen die Muslimbrüder die islamische Welt darauf ein, die Juden als Erbfeind der islamischen Welt zu betrachten. Die höchste Autorität der sunnitischen Welt, die Kairoer Azhar-Universität, rief zum Dschihad gegen Israel auf. Die reale Opferbereitschaft blieb jedoch weit hinter den Verlautbarungen zurück. In Wirklichkeit wollten nur wenige Araber ihr Leben für Palästina aufs Spiel setzen, und die arabischen Staatsführer wurden eher aus Furcht vor der Wut der "arabischen Straße" in den Krieg gezogen.
Nominell waren die Armeen von Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und dem Irak den Juden zwar haushoch überlegen. Man konnte sich jedoch nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen und mobilisierte jeweils nur einen geringen Teil der Truppen, die sich zudem in beklagenswertem Zustand befanden. So zog jeder für sich der Niederlage entgegen. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr gewann das anfangs schlecht gerüstete Israel personell und waffentechnisch die Oberhand. Nur der von den Vereinten Nationen verhängte Waffenstillstand rettete die arabischen Armeen vor einer noch größeren Niederlage.
Die Nakba, die viel beschworene Katastrophe, war zu einem guten Teil selbst verschuldet durch Selbstüberschätzung, Inkompetenz und Feigheit. Von den palästinensischen Eliten hatten sich nur wenige dem Kampf gestellt, die arabischen Milizen waren unkoordinierte Haufen. Die Palästinenser hatten zwar das Recht auf einen Staat gefordert, aber versäumt, sich darauf vorzubereiten, während die Juden entschlossen ihre Chance ergriffen. Am Ende konnten sie ihr Staatsgebiet um mehr als zwanzig Prozent erweitern. Die viel diskutierte Frage, ob das ein Resultat der Kämpfe oder eines ursprünglichen zionistischen Dominanzstrebens war, lässt Morris in dem Buch beiseite.
Zum Dauerproblem wurde die Flucht der Palästinenser erst dadurch, dass ihnen Israel das Recht zur Rückkehr verweigerte und auch die arabischen Staaten (mit Ausnahme Jordaniens) keine Anstalten machten, sie in größerem Umfang aufzunehmen. Noch heute leben viele von ihnen in Slums an Stadträndern arabischer Städte, ohne Papiere und Zugang zu medizinischer Versorgung, und werden als Waffe gegen Israel gewendet. Yassir Arafat machte davon Gebrauch, als er das Rückkehrrecht aller Flüchtlinge einschließlich ihrer Nachkommen zur Bedingung einer Zweistaatenlösung machte. Wohl wissend, dass er damit von den israelischen Juden die Einwilligung in ihren wahrscheinlichen Untergang forderte. Auch im Katalog der BDS-Bewegung findet sich diese Forderung.
Seltener ist von den rund 850.000 Juden die Rede, die während des Kriegs vor Unterdrückung und Gewalt aus arabischen Ländern fliehen mussten, ohne sich irgendeines Vergehens schuldig gemacht zu haben. Den jüdischen Sieg mussten die Juden in den arabischen Ländern teuer bezahlen. Tausendfach wurden sie in Konzentrationslager verbracht, viele kamen bei Pogromen ums Leben. Eine große Fluchtbewegung, besonders in Richtung Israel, setzte ein. Heute leben in arabischen Ländern fast keine Juden mehr. Die geflüchteten Juden wurden von Israel integriert, ebenso die im Land gebliebenen Araber, die heute rund zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen. Letztere haben nicht die vollen Staatsbürgerrechte, im Durchschnitt leben sie aber wohl unter besseren Bedingungen als die palästinensischen Flüchtlinge in arabischen Ländern. Morris zufolge konnten viele der damals vertriebenen Juden das in arabischen Ländern erlittene Unrecht nicht vergessen und wurden zur Klientel rechter Parteien. Das Rückkehrrecht von Juden in arabische Länder wurde indessen nie zu einem Thema, das die Gemüter in ähnlichem Maß bewegt wie das Schicksal der Palästinenser, wohl deshalb, weil die vertriebenen Juden wenig Neigung zur Rückkehr dorthin verspürten.
Zweifellos wurde das Flüchtlingsproblem durch einen Krieg geschaffen, den die Araber begonnen hatten. Aber hatten sie nicht das Recht, den UN-Teilungsplan abzulehnen? Schon in den Vorverhandlungen hatte sich gezeigt, dass sie sich mit einem Teil des Landes nicht zufriedengeben würden. Während sich die Juden um die UN-Delegation bemühten und ihr ein aufblühendes Land präsentierten, beschränkte sich die arabische Seite auf Kriegsdrohungen für den Fall einer jüdischen Staatsgründung. Man unterschätzte die Wirkung des Holocausts, der die internationale Akzeptanz eines jüdischen Staats beträchtlich erhöht hatte. Die jüdische Seite berief sich auf den UN-Teilungsplan und darauf, dass es nie einen Staat Palästina gegeben habe.
Der Palästinakrieg hatte nach der Deutung von Morris von Beginn an eine globale Dimension. Die arabischen Staaten betrachteten ihn als Abwehrschlacht gegen den von Israel verkörperten Westen und gegen den Angriff auf die heiligen Stätten des Islam. Der tiefe Hass, der den Konflikt bis heute antreibt, ist für Morris nur vor dem religiösen Hintergrund und der jahrhundertealten Tradition des Antisemitismus in islamischen Ländern zu verstehen. Das Massaker der Hamas ist die Konsequenz der fortschreitenden Islamisierung des Konflikts in den vergangenen Jahrzehnten. Im Hass auf die Juden und den Westen finden große Teile der arabischen Welt auch dann immer wieder zur Einheit, wenn sie das palästinensische Schicksal, wie schon 1948, nur mäßig interessiert.
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