Besprechung vom 30.11.2024
Bei Betrachtung eines Scherbenhaufens
Johann-Günther König erklärt, was alles mit der Deutschen Bahn nicht stimmt
Ehrlicherweise muss man zugeben, dass das Reden über die Deutsche Bahn meistens eine Form des Dünnbrettbohrertums ist - man nimmt zur Kenntnis und erlebt es oft genug am eigenen Leib, dass die Bahn nicht richtig funktioniert, kennt auch die Hauptursache dafür (grundlegend vernachlässigt); aber wie sich das alles betriebswirtschaftlich, organisatorisch, strukturell und politisch verhält, das wissen die wenigsten. Sie müssen es auch nicht wissen, wie man auch kein Meteorologe sein muss, um aufs Wetter zu schimpfen. Die Leute zahlen, wenn sie denn überhaupt Bahn fahren, viel Geld für viel Ärger; da werden Meinungsäußerungen, die einen historischen Tiefststand erreicht haben, wohl noch erlaubt sein.
"Anschluss verpasst! Die Krise der Deutschen Bahn" von Johann-Günther König ist, rein als Broschur, kein dickes Brett. Auf knapp 130 Seiten wird aber eins gebohrt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es sich dabei um keine erbauliche Lektüre handelt. Die Lagebeschreibung fällt desaströs aus; von einem "Armutszeugnis" für die politische Klasse mag man schon gar nicht mehr reden, es ist irgendetwas darüber hinaus. Die eigentliche Leistung des Büchleins liegt jedoch woanders: in der mit kühler Sachlichkeit vorgenommenen Herleitung dieses gewaltigen Schadensfalles aus dem falschen Denken, oft einfach auch nur aus der Dummheit und manchmal sogar aus der Verantwortungslosigkeit der dafür eigentlich Verantwortlichen - der Bahn-Chefs, der Verkehrsminister, der Bundesregierungen und der mit falschen Vorgaben ebenfalls nicht geizenden EU-Kommission.
Dass alle der Bahn Schaden zugefügt oder zumindest nicht von ihr abgewendet haben, sieht man mittlerweile jeden Tag. Aber jetzt steht man vollends vor dem Rätsel, wie der Bund als alleiniger Eigentümer grundsätzlich die falschen Leute ans Ruder des Vorstandsvorsitzenden lassen konnte. Jemanden wie Hartmut Mehdorn zum Beispiel, diesen auf den Börsengang so versessenen Sparkommissar, unter dem Prämien für Streckenstilllegungen ausgelobt waren.
Über die Probleme und die teils lange zurückliegenden Fehlentwicklungen des Unternehmens wird seit Jahren gesprochen. König zeigt, wie vor allem seit der Bahnreform 1994, mit und nach der nicht nur nichts besser, sondern, wie man nicht erst heute sagen muss, alles nur schlechter geworden ist, das betriebswirtschaftliche Denken die Bahn praktisch ruiniert hat: der auch von der EU seinerzeit ausdrücklich beförderte Wettbewerbsgedanke, der dazu geführt hat, dass in einem dicht besiedelten und ohnehin zugebauten Land sich Dutzende "Anbieter" breitmachen, die Schienen belegen und so mit dazu beitragen, dass die aktuell auf das Sanktnimmerleinsjahr 2070 terminierte Vollendung des "Deutschlandtakts" auf so beschämende Weise hinauszögert wird.
Gravierender ist aber noch etwas anderes: die fixe Idee, man könne und müsse, wie mit allem anderen, so auch mit einem Infrastrukturunternehmen, das doch dem Gemeinwohl verpflichtet sein sollte, sehr viel Geld verdienen. Das Management tut es auch nach wie vor, reichlich sogar; aber was König von der Motivation der breiteren Belegschaft zu berichten weiß, ist beunruhigend. So etwas wie einen Eisenbahner-Stolz gibt es nicht mehr.
Der Autor, der schon mit mehreren profunden Büchern zu Verkehrsthemen hervorgetreten ist, sieht sich das verflochtene, durch Zu- und Verkauf von irgendwelchen Firmen instabil gehaltene Konstrukt Deutsche Bahn AG mit allen seinen "Töchtern", auf deren jüngster, der DB Infra GO, offenbar auch kein allzu großer Segen liegt, aus der Nähe an, markiert mit der Trennung von Netz und Betrieb einen entscheidenden, immer noch nicht behobenen Konstruktionsfehler und kommt zu dem Schluss, dass sich das alles auch in Zukunft nicht rechnen wird - wenn nämlich nicht bald großzügig gerechnet, das heißt, erheblich investiert wird und eine Konzentration aufs Kerngeschäft, das nun einmal im Transport von Personen und Gütern besteht, erfolgt.
Wie eklatant die Versäumnisse inzwischen sind, wie sehr sich Bund, Länder und Bahn mit längst aus dem Ruder gelaufenen oder noch laufenden Groß- und Prestigeprojekten wie Stuttgart 21, einem Frankfurter Tiefbahnhof oder absurd teuren, dazu noch klimaschädlichen Tunnelbauten verzettelt, insgesamt: wie wenig man seit den Gründertagen und den noch halbwegs intakten Phasen der deutschen Eisenbahn vorangekommen ist, wie rückschrittlich diese heute, trotz der inzwischen nur noch lächerlichen Schönfärbereien, im Grunde ist, zeigt der Autor am Beispiel der Strecke Hamburg-Berlin. Der Dieselzug Fliegender Hamburger brauchte dafür seit dem Frühjahr 1933 zwei Stunden und zwanzig Minuten; heutige ICEs brauchen dafür, wenn sie nicht, was sie jetzt schon oft genug tun, bevor erst im nächsten Sommer die sanierungsbedingte Vollsperrung kommt, sowieso einfach ausfallen, mehr als drei Stunden, Tendenz steigend.
König, der seinen ruhigen Duktus mit polemisch-sarkastischen Alltagsbeanstandungen, die längst Volksgut geworden sind, auflockert, macht plausibel, dass "die Politik", die ja letztlich die Verantwortung für den nun zutage liegenden Scherbenhaufen trägt, von Anfang an irrte, indem sie meinte, man könne zwischen Funktionsfähigkeit und Profitabilität eine für alle Beteiligten verträgliche Balance erzielen. Aber noch jeder Bundesregierung lag und liegt das Wohl der Automobilindustrie mehr am Herzen, die mit steuerlichen Vergünstigungen und rechtlich-strukturellen Erleichterungen wohl auf ewig gepäppelt wird. Nur ist die Bahn erst recht ein Zuschussgeschäft, sehr viel mehr, als die jetzt sichtbar werdenden zusätzlichen Milliarden-Lücken ahnen lassen.
Jedoch: "Den Regierenden in Deutschland fehlt der ernsthafte politische Wille, den Schienenverkehr wie in der Schweiz zum Rückgrat eines attraktiven öffentlichen Verkehrssystems zu entwickeln und damit auch dem Klimaschutz zu dienen." So ist, man sieht es gerade wieder allenthalben, die Sachlage. Und solange sich daran nichts ändert, laufen alle Verbesserungsvorschläge ins Leere. Aus diesem Grund macht die Broschur auch so betrüblich wenig Hoffnung. Dass etwas nicht stimmt mit der Bahn und dass es absehbar auch nicht besser wird - laut König bleibt die Bahn auch die 2030er-Jahre hindurch ein Durststreckenunternehmen -, das Gefühl hat man schon lange. Jetzt weiß man genauer, woher es kommt. EDO REENTS
Johann-Günther König: "Anschluss verpasst!". Die Krise der deutschen Bahn.
Zu Klampen Verlag, Springe 2024.
126 S., br.
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