Willkommen in der wundersamen Welt der Hühner
Das Huhn kann nur wenige Meter weit fliegen, und dennoch hat es als einziger Nachfahre der Dinosaurier die Welt erobert. Auf der Erde leben heute mehr als zwanzig Milliarden Hühner. Auf jeden Menschen kommen drei. Vielleicht verkörpert das Huhn deshalb unser widersprüchliches Verhältnis zu Tieren am besten: Es ist sowohl geliebtes Haustier als auch Produkt einer ausgeuferten Massentierhaltung.
»Am Anfang war das Huhn« erzählt von der jahrtausendealten Beziehung zwischen Mensch und Huhn: von seiner kultischen Verehrung im Alten Ägypten bis zu seinem Einzug in unsere Vorstadtgärten während der Coronapandemie. In allen Epochen waren wir und die Hühner gemeinsam unterwegs. Doch was wissen wir wirklich über unsere eierlegenden Gefährten? Welche Geschichten erzählen uns Rassen wie das uralte Bankivahuhn, der kämpferische Malaie oder das in königlichen Gärten pickende Cochin-Huhn?
Unterhaltsam wie erkenntnisreich bringt uns die Anthropologin Sally Coulthard die schillernde Vielfalt der Hennen und Hähne näher.
Besprechung vom 20.09.2024
Stolz und tapfer gegen den preußischen Adler
Von diesem Charaktertier gibt es dreimal mehr Exemplare als von allen Wildvögeln zusammen: Sally Coulthard erzählt die Geschichte von Mensch und Huhn.
Was kam denn nun zuerst, das Huhn oder das Ei? Für Sally Coulthard ist die Antwort klar: Am Anfang war das Huhn. Unter diesem Titel hat die Britin eine Hühnerchronik verfasst, die sich den Vögeln unter verschiedenen Gesichtspunkten widmet. Sie ist Fan unorthodoxer Tiere. Unter ihrer Feder entstanden bereits Werke über Regenwürmer und Frösche, nun geht es um Henne und Hahn.
Coulthard - selbst Hühnerhalterin - folgt dabei einem Zeitstrahl, der von der Zeit der Dinosaurier bis zur Erkundung des Weltraums reicht. Schließlich stammen Hühnervögel (Galliformes), wie alle anderen Vögel auch, von den Sauriern ab. Gemein hat die Ordnung der Hühnervögel, dass sie dem Leben auf dem Land zugewandter ist als dem in der Luft. Ihr Flügelschlag sieht unbeholfen aus, man denke an Truthähne oder Pfauen. Das Buch konzentriert sich aber auf das Haushuhn Gallus gallus domesticus. Und dessen Wildform, das Bankivahuhn aus Südostasien, Gallus gallus.
Weil es ein Kurzstreckenflieger ist, eignete sich das Huhn zur Domestizierung. Schätzungsweise viertausend Jahre ist es her, dass das Bankivahuhn vom Wild- zum Haus- und Nutztier wurde. Primär dient Geflügel heutzutage als Eier- und Fleischlieferant - der Begriff "Geflügel" meint damit das Huhn als domestiziertes Nutztier.
Doch das war nicht immer so. Hühner haben eine bewegte Historie. In der Antike wurden Hähne mitunter verehrt, in Griechenland standen sie für "Kampfeslust, Stolz, sexuellen Appetit und Wachsamkeit". Hahnenkampf war ein beliebtes Schauspiel: "Junge Männer waren verpflichtet, zum Zweck der Ausbildung Hahnenkämpfe anzuschauen, und der Philosoph Chrysippus staunte, wie nützlich Hähne seien, um Soldaten für den Krieg zu begeistern und in ihnen das Streben nach Tapferkeit zu erwecken."
Auch die christliche Tradition kommt nicht ohne Hühner aus: Nikolaus I., Papst von 858 bis 867, verfügte, dass sich an der Spitze sämtlicher Kirchtürme ein Wetterhahn befinden muss. Der Wetterhahn erinnert hierbei an den Apostel Petrus, der Jesus zwar vor dem ersten Hahnenschrei dreimal verleugnete, letztlich aber erster Papst wurde. Dass die Autorin mitunter einen pathetischen Ton anschlägt, muss kein Nachteil sein, schafft sie es so doch, die Vögel als besonders würdevolle Geschöpfe darzustellen. Eine Betrachtungsweise, die heute verloren gegangen scheint, wie sie später ausführt.
Coulthard beschreibt das Huhn als Charaktertier, dessen Bedeutung sich wandelte: Vom stolzen Kampfhahn mit breiter Brust zum eingepferchten Masthuhn, mit zu breit gezüchteter Brust. "Während des ersten Weltkrieges verkörperte der gallische Hahn den französischen Widerstand und Mut im Angesicht der feindlichen Truppen, ein bäuerliches Tier, das stolz und tapfer gegen den preußischen Adler antrat." Bis heute ist das Tier in der französischen Heraldik präsent, etwa auf den Trikots der Fußballnationalmannschaft. Aber auch auf dem Teller, in Form des Nationalgerichts Coq au Vin.
Zu jedem der acht Kapitel gibt es ein Quellenverzeichnis. Ein ganzes Kapitel ist Metaphern rund ums Huhn gewidmet. Dort wird auf unterhaltsame Weise die skurrile Herkunft von Redewendungen erklärt. Wir lernen etwa, was es bedeutet, wie ein aufgescheuchtes Huhn herumzulaufen. Oder was es mit der sexuellen Aufgeladenheit von Hahn und Henne auf sich hat: Wie kam es dazu, dass das englische Wort für Hahn, "cock", zum Synonym für Penis und aus dem Sprachgebrauch verbannt wurde? Warum werden junge Frauen "chick", also Küken, genannt?
Im Jahr 1923 starteten Cecile und David Wilmer Steele den ersten Masthuhnbetrieb im amerikanischen Delaware, als ihnen statt der bestellten fünfzig versehentlich fünfhundert befruchtete Eier geliefert wurden. Für die Geflügelindustrie ein historischer Moment: Der Hühnerstall steht heute unter Denkmalschutz. Gipfel der Absurdität: Die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken schoss 2017 eine panierte Hühnerbrust ins Weltall.
Die gegenwärtige Bedeutung des Huhns vermittelt die Autorin mit Zahlen. So gibt es von ihm mittlerweile dreimal mehr Exemplare als von allen Wildvogelarten zusammen. 22 Milliarden dieser Hochleistungstiere leben aktuell auf der Erde: "Heute legen kommerziell gehaltene Hennen das ganze Jahr über Eier, doch früher machten sie eine lange Winterpause, bevor sie im Frühjahr wieder damit begannen." Zudem ist das Huhn buchstäblich in fast aller Munde: Hühnerfleisch ist vor dem Schwein das meistkonsumierte Fleisch.
Zum Ende hin gewinnt das Buch an Schärfe. Der Autorin zufolge sind Hühner "enttiert", Menschen würden in ihnen keine Vögel mit Sozialverhalten und Eigenschaften sehen, sondern Pflanzen, die man ernte - eine Folge der industrialisierten Geflügelzucht, in der ein Masthuhn nach sieben Wochen geschlachtet wird. Das Bankivahuhn kann in freier Wildbahn dagegen bis zu dreißig Jahre alt werden. Im Laufe der Zucht haben die Tiere ihre Namen verloren, mittlerweile sind eher Markenbezeichnungen wie Cobb500 oder Ross308 geläufig. Überlebensfähig sind die Zuchttiere auf lange Sicht nicht. JENS WOHLGEMUTH
Sally Coulthard: "Am Anfang war das Huhn". Geschichte eines Charaktertiers.
Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann. HarperCollins Verlag, Hamburg 2024.
304 S., Abb., geb.
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