Über die Schlüsselgefühle unserer Zeit
Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva Illouz auf unsere aufgewühlte Zeit aus der Perspektive der Gefühle, die sie prägen. Angst, Enttäuschung und Wut, aber auch Scham oder Liebe sind fest in die sozialen Arrangements der westlichen Moderne eingebaut - und werden von ihrer Ökonomie, Politik und Kultur intensiv bewirtschaftet. Sie sind psychologisch relevant, moralisch bedeutsam, politisch wirksam - und hochgradig ambivalent. Das macht die Gegenwart, in der wir leben, so brisant, ja explosiv.
Illouz erhellt diese Phänomene in einer meisterlichen Komposition aus soziologischen Analysen, historischen Miniaturen und Lektüren ikonischer Werke der Weltliteratur. In präzisen Porträts der Emotionen, die Gesellschaft unter Hochspannung setzen, beleuchtet sie die Mechanismen ihres Wirkens sowie den Grund ihrer machtvollen Präsenz. Das Verblassen des amerikanischen Traums und die Fragilität der liberalen Demokratie, das Hamsterrad des Kapitalismus und die Konflikte rund um Identität, aber auch Antisemitismus, Rassismus und Misogynie: Ohne Bezug auf die Schlüsselgefühle der explosiven Moderne lassen sie sich weder verstehen noch einhegen oder bekämpfen. Das zeigt dieses so fesselnde wie zeitgemäße Buch.
Besprechung vom 28.12.2024
Von Madame Bovary zu heutigen Lifestyle-Obsessionen
Das Psychogramm einer Epoche als kultursoziologisches Wimmelbild: Eva Illouz untersucht, wie die Moderne unser Selbst- und Weltverhältnis prägt
Seit einem knappen Vierteljahrhundert befasst sich Eva Illouz mit den emotionalen Nebenwirkungen moderner Gesellschaftsstrukturen. In Büchern wie "Der Konsum der Romantik" oder "Warum Liebe weh tut" untersuchte sie, wie das Beziehungs- und Liebesleben durch die Gesetze des Marktes neu modelliert wurde. In "Die Errettung der modernen Seele" ging es um die Allgegenwart von psychotherapeutischen Glücksdiktaten und Selbstoptimierungsdiskursen. Unter dem Titel "Undemokratische Emotionen" führte die in Paris und Jerusalem lehrende Soziologin am Beispiel Israels aus, wie Befindlichkeiten zur Ressource für populistische Politik werden.
Illouz' jüngstes Werk "Explosive Moderne" liest sich nicht zuletzt wie ein schwungvoll arrangiertes Best-of ihrer bisherigen Arbeiten. Zugleich weitet sie ihren emotionssoziologischen Ansatz zum Psychogramm einer Epoche aus. Auf welche Weise, lautet die übergreifende Frage, hat "die" Moderne mitsamt ihren technischen Revolutionen und Traditionsbrüchen, ihrem Naturbeherrschungsdrang, ihren Rationalisierungs-, Demokratisierungs- und Emanzipationsprozessen das emotionale Selbst- und Weltverhältnis des Individuums geprägt?
So gehört für Illouz zur Erstausstattung des modernen Seelenhaushalts die Hoffnung. Dieses Gefühl gab es fraglos schon in früheren Zeiten. Doch erst die Aufklärer lösten die Hoffnung aus ihrer religiösen Verankerung und machten daraus diesseitigen Fortschrittsoptimismus, der wahlweise als moralischer, technischer, ökonomischer oder politischer auftrat. Wenn Illouz die Ambivalenz der säkularisierten Empfindung herausarbeitet, macht sie, wie man es aus ihren Schriften kennt, von den altgedienten Instrumenten der Kritischen Theorie Gebrauch.
Demnach ließen sich mithilfe der Hoffnung nicht nur Visionen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verwirklichen, sie hielt auch die Bedürfnisproduktion des Konsumkapitalismus am Laufen und camouflierte gesellschaftliche Ungerechtigkeiten ebenso wie die faktische Nichtexistenz sozialer Aufstiegschancen. Der amerikanische Traum, der irgendwann in der "Ideologie der Leistungsgesellschaft" aufging, steht hier exemplarisch für die chronisch uneingelösten Heilsversprechen der Epoche. Nach der Hoffnung wurde folglich die Enttäuschung zur "konstitutiven Kategorie" des modernen Subjekts.
Zu den "Schlüsselgefühlen", in denen sich die Widersprüche und Spannungszustände der Moderne niederschlagen, zählt Illouz ferner Neid, Liebe, Zorn und Furcht. Auch die Nostalgie als Verklärung einer verlorenen kulturellen oder geographischen Heimat wird auf ihre epochalen Eigenheiten hin abgeklopft. Nicht weniger prägnant ist das Kapitel geraten, in dem der Stolz als emanzipatorische Strategie, die Scham zu überwinden, in den Blick gerät. Neben Umfragen, Studien und ikonischen Texten der Soziologie (Simmel, Durkheim, Bourdieu) zieht Illouz ausgiebig Beispiele aus dem literarischen Kanon heran. In den Werken Prousts, Kafkas und Annie Ernaux' findet sie die "soziale Grammatik der Gefühle" mustergültig ausbuchstabiert.
Inhaltlich weist "Explosive Moderne" markante Überschneidungen mit Andreas Reckwitz' groß angelegter Epochendiagnose "Verlust" auf (F.A.Z. vom 12. Oktober). In beiden Büchern geht es wesentlich um das Brüchigwerden der modernen Fortschrittserzählung, um eine allseits grassierende Verletzlichkeit und Reizbarkeit, deren Gründe neben handfesten Miseren (Klimawandel, Pandemien, Kriege) auch in einer Psychologisierung und Sensibilisierung der Gegenwartskultur liegen. Während Reckwitz jedoch feinsäuberlich den entscheidenden mentalitätsgeschichtlichen Wandel herausarbeitet, der um 1980 die Spätmoderne einläutete, verfährt Illouz systematisch denkbar ungezwungen. Zwar benennt sie in der Einleitung noch verschiedene Etappen der Moderne, kümmert sich anschließend jedoch nicht mehr darum.
Dabei ist überaus plausibel, wenn Illouz einen direkten Bogen von Madame Bovarys Kaufsucht und romantischen Klischeeträumen zu den Lifestyle-Obsessionen und sozialen Desillusionierungsdramen des 21. Jahrhunderts spannt. Auch "Michael Kohlhaas" lässt sich umstandslos als zeitlose Parabel auf die sich verselbständigende, alles verheerende Dynamik des Zorns lesen. Allerdings neigt Illouz dazu, ihre Ausführungen zu überfrachten. Spätestens wenn sie innerhalb weniger Absätze Freud, Kafka, J. M. Coetzee und Joseph Roth zum Gefühl der Nostalgie befragt, hastig noch eine Ethnographin und einen Philosophen zitiert, wirkt der Buchtitel auf eigentümliche Weise zutreffend. Offenbar ist irgendwann der Zettelkasten explodiert.
Herausgekommen ist ein kultursoziologisches Wimmelbild, in dem sich wenig grundsätzlich Neues findet, dafür zahlreiche erhellende Detailbeobachtungen zur emotionstheoretischen Genese heutiger Debattenschlachten um Identität, Rassismus und Terrorverharmlosung. Manchmal sind die Ausführungen zu schematisch geraten, hin und wieder haben sich offenkundige Patzer eingeschlichen, etwa die Behauptung, die jüngere Generation sei heute gegen Rechtspopulismus deutlich mehr gefeit als ältere Jahrgänge.
Eine interessante Wendung nimmt der Gedankengang auf den letzten Seiten, wenn Illouz den Emotionen ein Eigenleben zugesteht, das die kontingenten Bedingungen der äußeren Wirklichkeit potentiell übersteigt. Zwar gibt es kein richtiges Fühlen im falschen, laut Illouz aber die Möglichkeit, eine "innere Stimme" zu Wort kommen zu lassen, die sich allen sozialen Skripten widersetzen und "private und kollektive Revolutionen auslösen" kann. Bleibt zu hoffen, dass es sich hier nicht doch wieder nur um eine dieser vollmundig modernen Verheißungen handelt, die sich als Enttäuschung entpuppen. MARIANNA LIEDER
Eva Illouz: "Explosive Moderne".
Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
447 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Explosive Moderne" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.