Besprechung vom 08.10.2024
Alte Nazis, neue Ämter
Kurt Tallert über das Leben seines Vaters
Am Anfang war die Erinnerung an dieses Bild, das groß im elterlichen Treppenhaus hing, den kleinen Kurt Tallert nicht losließ und zahllose Fragen in ihm weckte: Francisco de Goyas "Duell mit Knüppeln", auf dem sich "zwei Spanier, knietief im Morast der kastilischen Steppe versunken, gegenseitig die Köpfe mit Knüppeln einschlagen". Für seinen Vater Harry, SPD-Politiker und Überlebender des Holocaust, waren die beiden Figuren wie Brüder und illustrierten trefflich die Sinnlosigkeit des Krieges: Sie stehen im selben existenziellen Schlamm und prügeln sich gegenseitig zu Tode. "Absurd" nannte der Vater solche Konstellationen, die ihm zutiefst menschlich erschienen. "Absurd" wird daher auch zur Kernvokabel für den Sohn Kurt, der jetzt einen überaus bemerkenswerten Essay über das Leben seines Vaters vorgelegt hat und zugleich davon erzählt, wie dessen Spuren und Abwege seinen eigenen Alltag - 27 Jahre nach dem Tod Harrys - noch immer prägen.
Harry Tallert wurde 1927 im schlesischen Beuthen (heute Bytom) als Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter geboren und galt den Nationalsozialisten daher als "Halbjude". Als solcher flog er aus der Hitlerjugend, was dem Jungen eine schlimme Kränkung zufügte, denn auch er wollte in jungem Alter vor allem eins: dazugehören. Rachephantasien löste die Demütigung aus, wie Harry sich später erinnern sollte, und absurde Tagträume: Was wäre, wenn er, der Ausgestoßene, dem "Führer" bei einem Attentat heldenhaft das Leben retten würde? Sicher würde man ihn dann als "Ehrenarier" wieder in die Volksgemeinschaft aufnehmen und entsprechend feiern. Stattdessen wurde er immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt, bis er sich als Siebzehnjähriger im Zwangsarbeitslager Lenne wiederfand. Hier sollte er wie rund 3000 Leidensgenossen für die deutsche Rüstungsindustrie schuften.
Nach rund acht Monaten endete Harry Tallerts Lagerzeit. Sein Vater war unterdessen nach Theresienstadt deportiert worden, konnte aber überleben, während andere Mitglieder seiner jüdischen Familie in Auschwitz ermordet worden waren. Nach dem Krieg musste Harry mit Mühe den deutschen Nachkriegsbehörden beweisen, dass er als Halbjude verfolgt worden war und ihm Entschädigung zustand - eine weitere Demütigung und eine erneute Absurdität: Waren es nicht deutsche Behörden, denen zwölf Jahre lang sein "halbes" Jüdischsein als einzig relevantes Faktum seiner Existenz galt? Und nun wollten sie davon nichts mehr wissen.
Die plötzliche Amnesie hatte in der neu gegründeten BRD allerdings nicht nur die Verwaltung ergriffen, überall gab es Erinnerungslücken und Verdrängung, die Tallert kaum noch ertragen konnte. Als SPD-Bundestagsabgeordneter musste er später etwa miterleben, wie Günther Nollau in der Fraktion als Kandidat für das Präsidentenamt beim Bundesverfassungsschutz präsentiert wurde. Ihm werde speiübel, wenn er mitansehen müsse, dass ehemalige NSDAP-Leute wieder in die höchsten Positionen gebracht würden, schrie Tallert dem Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner seinen Frust ins Gesicht. "Du kennst nicht die anderen!", brüllt dieser zurück - und das war's dann.
Kurt Tallert, der sich bereits als Rapper "Retrogott" einen Namen gemacht hat, erzählt nicht chronologisch vom Schicksal seines Vaters, sondern verwebt einzelne Episoden mit der eigenen Suche und flicht dabei immer wieder Zitate aus Harrys Lagerbriefen ein oder gibt dessen literarische Versuche wieder, das Erlittene einigermaßen in den Griff zu bekommen. Dieses Vorgehen begründet Kurt auch mit einem angeblichen Defizit: Für anderes fehle es ihm an "emotionaler Distanz, wissenschaftlichem Eifer und Geduld".
Das klingt so, als würde er seinem Stoff nicht gerecht - doch das Gegenteil ist der Fall. Kurt Tallerts literarisches Debüt ist ein blitzgescheiter Text, der nicht nur die eigene Familienbiographie reflektiert, sondern immer wieder ins Große ausgreift. So finden sich zum Beispiel Bemerkungen zur deutschen Erinnerungskultur, die Zentrales treffen: "In ihren Sonntagsreden zu den Themen Hitlerismus und Shoah sprechen Politiker, ohne mit der Wimper zu zucken, vom Zivilisationsbruch. Dabei kommt es mir eher so vor, als habe die Zivilisation zu ihrem endgültigen Durchbruch uns Menschen gebrochen. Die Rede vom Zivilisationsbruch klammert nicht nur die pränazistische Verfolgungsgeschichte der Juden in der Welt, vor allem aber in Europa, aus, sondern glänzt durch ihre systematische Verkennung von Kolonialgeschichte, Sklaverei, Imperialismus, vorangegangenen Kriegen und zu guter Letzt der Gegenwart. Sie verkennt das Gebrochene an der Zivilisation." SASCHA FEUCHERT
Kurt Tallert: "Spur und Abweg".
DuMont Buchverlag, Köln 2024. 240 S., geb.
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