Besprechung vom 18.09.2024
Himmlische Konzerte
Von religiösen Akteuren, die die Säkularisierung beschwingt überflogen: Wolfgang W. Müller folgt den Spuren singender und musizierender Engel.
Kaum ein Gebet des Christentums ist über die Jahrhunderte häufiger gesprochen und gesungen worden als der Gruß des Erzengels Gabriel: "Ave Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir". Diese Verkündigungsszene als gleichsam Nukleus christlichen Glaubens ist damals wie heute schwer begreifbar: Ein Engel steigt vom Himmel herab, zeigt sich der jungen Frau und kündigt ihr an, den Sohn Gottes zu gebären. Sie nimmt ihr Los an, beginnt sogleich zu beten und die ewige Gemeinde vorauszusehen: "Selig werden mich preisen alle Geschlechter." Über die Details dieser Familiengründung streiten später die Gelehrten, die Kirche gewinnt und verliert über die Zeiten an Bedeutung. Das Faszinosum der Engel jedoch bleibt und bewegt die Gemüter: Wer sind sie? Woher kommen sie? Wie kommunizieren sie? Sind sie gefährlich oder gut?
Der emeritierte katholische Theologe Wolfgang W. Müller kann diese Fragen freilich nicht sämtlich beantworten, aber er kann die Musik für sich sprechen lassen: Denn so wie das "Ave Maria" das am häufigsten vertonte Loblied des Christentums ist, haben zahlreiche Komponisten immer wieder Engel singen und musizieren lassen, in Liedern und Songs, in Opern und Operetten, in Sinfonien und Musicals. Engelsmusik gibt es seit dem Frühmittelalter bis heute, in allen drei monotheistischen Religionen spielt sie eine Rolle. Und selbst wenn die Engel in kirchlichen Zusammenhängen längst ihre Bedeutung verloren haben und man ihnen mit Georg Lukács eine "transzendentale Obdachlosigkeit" attestieren möchte: Sie überflogen offenbar nicht nur beschwingt Aufklärung und Säkularisierung, sondern erreichten eine mediale Aufmerksamkeit und Wirkmacht, die sich andere religiöse Figuren nur wünschen konnten, ob in der Werbung, im Film, Videogame oder der Popkultur. Das Repertoire ist schier unendlich, seine Kartierung eine Engels- wie Kulturgeschichte gleichermaßen.
Nicht das erste Mal versucht Müller, durch Musik sein dogmatisches Fachgebiet besser zu verstehen. In den letzten Jahren erschienen Publikationen zu Olivier Messiaen, Franz Liszt oder dem Bayreuther Kreis. Musik gilt ihm als wesentlich für Glaube und Transzendenz, und schon bei Messiaen und Liszt war Engelsmusik zu finden. Sein neues Buch über die Musik der Engel schließt daran an, zieht den Bogen aber größer. Im Fokus bleibt stets die Frage nach dem Warum, denn dass Engel singen, erscheint uns heute selbstverständlich, hat aber eine Vorgeschichte. Diese beginnt in der Antike und der Vorstellung einer Sphärenharmonie: Musikalisch beseelte Planeten als klingende, bewegliche Ordnungssysteme sollten erklären helfen, was im weit entfernten Himmel vor sich ging, und zugleich die Angst davor nehmen. Die menschliche Harmonie der Seele war damit im Gleichklang, auch wenn die Menschen die Sphärenmusik freilich nicht hören konnten. Was weit weg war, konnte dennoch als nah empfunden werden, alles gehörte zum gleichen harmonischen System.
Im Frühmittelalter tritt diese kosmische Dimension in den monotheistischen Religionen deutlich zurück, die Vermittler in den Himmel und zu Gott werden nun die Engel. Einerseits reine Geistwesen, die unsichtbar sind, andererseits figural präsent in Kunst, Literatur und Musik. Das ganze Personaltableau der Engelshierarchie entfaltet sich nun: Schutzengel, Erzengel, Cherubim, Verkündigungsengel, Seraphim, Engelschöre, gefallene Engel und so fort. Sie alle singen und musizieren, sie alle bilden und prägen Verbindungen von den Menschen zu Gott, indem sie als Boten und Vermittler auftreten.
Hier spätestens wird plausibel, warum Müller den Schlüssel zum Verständnis des Engelserfolges ausgerechnet in der Musik sucht: Mit ihr kann der Mensch aktiv oder passiv in himmlische Sphären eintauchen, die Mysterien der Religion nachempfinden und sich gemeinsam mit den Engeln in einer Gemeinde und damit näher bei Gott wähnen, der als solcher ungreifbar bleiben muss. Engel schaffen eine Distanzverringerung, sie bilden Brücken in metaphysisches Erleben. Diese Brücken entstehen häufig gemeinsam, als Gruppenerfahrung beim Einstimmen in engelische Texte im Gottesdienst, ein jahrhundertealtes konfessionelles Erfolgsrezept, etwa in Sanctus-Vertonungen der jüdischen und christlichen Liturgien. Oder man sucht mithilfe der Engelsmusik individuell die Nähe zu etwas Höherem.
Genau hier liegt das kreative Movens verborgen, das Müller in seinen vielen Musikbeispielen enthüllen kann. Es bekommt in Mittelalter, Früher Neuzeit, Moderne und Postmoderne zwar immer wieder neue kulturelle Konturen und Kontexte, ist aber im Grunde doch stets von individuellen Perspektiven auf das Unsagbare durchdrungen, die somit in Musik gelangen: Wenn Joseph Haydn in der "Schöpfung" die Aufklärungsidee mit der biblischen Geschichte verschränkt und die Engel singen lässt, geben sich irdische und himmlische Sphäre die Hand. In Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium "Elias" ersetzen die Engel sogar den Erzähler und fungieren nach Müller "als treibende Kraft des biblischen Narrativs".
In Benjamin Brittens "War Requiem" fungiert der Knabenchor im Sanctus als Allegorie auf die Engel. Die Hörer des düsteren Stückes, das von Krieg und Angst handelt, erhalten so einen tröstenden Beistand von oben. In Messiaens Oper "Saint François d'Assise" fällt der Heilige in Ohnmacht, als ihm ein musizierender Engel erscheint: eine Reverenz an die Lebensbeschreibung des Heiligen und die klingende Manifestation von Messiaens persönlicher Überzeugung himmlischer Überwältigungskraft. Selbst wenn die im vergangenen Jahr verstorbene finnische Komponistin Kaija Saariaho in ihrer Spektralmusik über einen Asteroiden, der in den Jahren 2008 und 2012 der Erde gefährlich nahe kam, über die eigene Endlichkeit reflektiert, ist der Blick gen Himmel der Ausgangspunkt.
Vieles fehlt auch, welch ein Wunder bei den Möglichkeiten: So werden weder die "Musikalischen Exequien" von Heinrich Schütz, Paul Hindemiths "Marienleben" nach den gleichnamigen Gedichten von Rainer Maria Rilke oder der berühmte Abendsegen aus Engelbert Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" erwähnt. Ebenso hat Müller an neuerer musikwissenschaftlicher Literatur von Janine Droese oder Oliver Huck vorbeigelesen, beide haben eine Menge zur Engelsmusik zu sagen. Auch ist der "diabolus in musica" keine übermäßige, sondern eine verminderte Quinte. Doch das ist Meckern am vollen Tisch: An den Angeboten, die dieses Buch zur interreligiösen Beschäftigung mit Engelsmusik quer durch die Geschichte macht, werden sich noch viele kluge Köpfe abarbeiten. CHRISTIANE WIESENFELD
Wolfgang W. Müller: "Musik der Engel". Eine Kulturgeschichte.
Schwabe Verlag, Basel 2024. 264 S., Abb., geb.
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