In der Struktur eine simple Geschichte, die jedoch schnell eine unheimliche Sogwirkung entfaltet. Das sind meiner Erfahrung nach oft die besten, denn wer mit den bekannten Grundelementen seines Genres trotzdem etwas Packendes schafft, beherrscht sein Handwerk. Yrsa Sigurðardóttir wechselt munter die Perspektiven, vom Zeitpunkt des Verbrechens zur Vorgeschichte, zu dessen Aufklärung und wieder zurück, sodass die Geschichte aus Sicht der Ermittler nach und nach aufgelöst und gleichzeitig mit und von den Opfern erlebt wird. Vor dem Hintergrund des isländischen Winters entsteht eine glaubwürdige Atmosphäre von Angst und Isolation, denn wer hier einmal mit einem tödlichen Geheimnis eingeschneit ist, braucht keine schnelle Hilfe zu erwarten, nicht einmal von den nächsten Nachbarn. Vertrauen kann Sóldís ohnehin niemandem, erst recht nicht nachdem im Haus Merkwürdigkeiten aller Art auftreten, die in Zusammenhang mit der dort lebenden Familie zu stehen scheint. Oder passiert das alles nur wegen Sóldis' Anwesenheit? Die Nebelkerzen sind souverän gesetzt, die Kompetenzen klar auf die Figuren verteilt. Einzig Nebenhandlung um den Polizisten Týr wirkt an mehreren Stellen zu aufgesetzt. Da soll es Querverweise zum Werk der Schriftstellerin Eva Björg Ægisdóttir geben, doch wer diesen Roman für sich liest, vermisst womöglich den Sinn hinter solchen Exkursen. Týr hat seine eigene dunkle Vergangenheit und seine PoC-Kollegin Karó muss mit mangelnder Akzeptanz des isländischen Landvolks klarkommen, doch beides fügt der Handlung nur wenig hinzu. Die Geschichte ist immer dann am stärksten, wenn sie mit neuen Enthüllungen aufwartet, die man trotz der überschaubaren Schauplätze nicht erwartet hätte. Die wechselnden Perspektiven lassen die über 400 Seiten wie im Flug vergehen, man suchtet diesen Thriller nur so hinein. Dass da manche Figurenzeichnung ein wenig auf der Strecke bleibt ist nicht schlimm, denn "Nacht" ist souveränes Handwerk und gelungene Unterhaltung in einem.