Besprechung vom 10.08.2024
Gebannt vom Meisterspiel der Täuschung
Namen werden getragen wie Masken: Nora Bossongs "Reichskanzlerplatz" erzählt von noch viel mehr als Magda Goebbels.
Das Buch ist 126 Seiten alt, da taucht er doch noch auf: "Seine Miene ist nicht so düster wie auf den Plakaten, er lauscht aufmerksam der Musik, tritt einen Schritt näher und blickt mir über die Schultern auf die Finger. Schubert, sage ich. Es geht zu Herzen, antwortet Hitler."
Natürlich war er zuvor schon immer präsent, denn wer einen Roman über eine der prominentesten Frauen der NS-Zeit schreibt, setzt dessen Handlung unvermeidlich in den Schatten Hitlers. Aber als er dann persönlich auftritt, lang erwartet, doch zuvor nie erwähnt, ist das ein kleines Virtuosenstück, weil es eben so beiläufig geschieht. Wobei Nora Bossong um die Wirkung nur zu genau weiß, platziert sie den zitierten Auftritt doch am Ende eines Kapitels, sodass der Name nachhallt in die Zäsur der Lektüre.
"Reichskanzlerplatz" heißt ihr Roman, und schon der Titel könnte die Erwartung wecken, es ginge um Hitler. Aber das ist eine der vielen geschickten Täuschungen in Bossongs literarischem Spiel, denn der Reichskanzlerplatz in Berlin hatte mit der NS-Regierung gar nichts zu tun - die benannte ihn sofort 1933 um in Adolf-Hitler-Platz, weil der alte Name auch die Regierungschefs aus den von den Nazis als "Systemzeit" geschmähten anderthalb Jahrzehnten der Republik ehrte. Nach dem Krieg bekam der Platz seine alte Bezeichnung zurück, ehe er 1963 dann jenen Namen erhielt, unter dem er sich zum Verkehrsknotenpunkt von Westberlin entwickelte: Theodor-Heuss-Platz. Aber dass diese neuralgische Adresse nun einen Romantitel abgibt, verdankt sich allein einer Anwohnerin, die dort 1931 einzog. Und so ist der von Nora Bossong für ihre Geschichte gewählte Titel genauso ein reines Stimmungsphänomen wie der Auftritt Hitlers.
Der Name der Anwohnerin am Reichskanzlerplatz? Sie trug viele. Als sie einzog, hieß sie Magda Quandt, bald danach Magda Goebbels, geboren wurde sie 1901 unter dem Familiennamen ihrer damals unverheirateten Mutter, Behrend, nach deren Eheschließung wurde daraus Friedländer und 1920 Ritschel (der Name des biologischen Vaters von Magda, denn einen jüdisch klingenden wollte sie nicht mehr). Diese Frau wechselte ihren Namen noch häufiger als der Reichskanzlerplatz. Und doch ist auch sie nicht die Hauptfigur dieses Romans.
Das scheint Hans Kesselbach zu sein, ihr sieben Jahre jüngerer Geliebter und der Icherzähler von "Reichskanzlerplatz". Magda Quandt lernte er als Gymnasiast kennen, weil sie die Stiefmutter eines Klassenkameraden war, in den er sich verliebte, und die gleichzeitige Faszination des homosexuell affizierten Halbwüchsigen für die noch junge Frau macht Bossong mehr durch dessen Irritation als durch juvenile Schwärmereien deutlich. Er beobachtet diese Dame der Gesellschaft, reich verheiratet und von den beiden Freunden mit der erotisch konnotierten Bezeichnung "Madame Quandt" bedacht, die wie auf einer Bühne agiert - der geliebte Freund sagt über seine Stiefmutter, "dass Madame Quandt auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt". Das ist schon auf Seite 17 des Romans zu lesen, auch an einem Kapitelende. Und so ist früh der Ton gesetzt für das, was von Hans Kesselbach über Magda Quandt/Goebbels erzählt wird. Und über sich selbst.
Nora Bossong war mit ihrem Vorgängerroman "Schutzzone" vor fünf Jahren die literarische Aufsteigerin in Deutschland: Kranichsteiner Literaturpreis, Wilhelm-Lehmann-Preis, Thomas-Mann-Preis, Joseph-Breitbach-Preis - alles innerhalb nur eines Jahres. "Schutzzone" erzählte aus der Perspektive einer Mitarbeiterin der Vereinten Nationen über das Dilemma, Politik, Moral und Privates in Übereinstimmung zu bringen. Das hätte auch das Grundthema von "Reichskanzlerplatz" werden können (und der Klappentext behauptet so etwas Ähnliches), aber Bossong ist an anderem interessiert: der allmählichen Verfertigung einer Persönlichkeit beim Leben. Und einem Sittenbild (im buchstäblichen Sinne) aus nachtschwarzer Epoche. Die eigentliche Hauptfigur dieses Romans ist eine imaginäre: das Fremdbild einer Frau, das nichts zu tun hat mit deren Realität. Und deshalb vom Urheber auch immer wieder selbst in Zweifel gezogen wird. "Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden", sagt sich der Icherzähler, "und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht."
Das gilt auch für Nora Bossong. Ihr Hans Kesselbach sieht die charakterlichen Schwächen von Magda Quandt schon, bevor sie Magda Goebbels wird. Aber es rettet ihn nicht: Bossong beschreibt die charakterlichen Schwächen ihres Icherzählers. Denn der ist zwar ein Außenseiter, passt sich aber doch ins Gefüge seiner jeweiligen Umgebungen ein und gibt eigene Überzeugungen auf, wenn es die Umstände erfordern. So wird "Reichskanzlerplatz" zum Porträt der deutschen Gesellschaft in prekärer Zeit, zur Studie eines autonom scheinenden Charakters, der sich den Autoritäten beugt. Und der das weiß, weshalb der Zweifel auch ihm selbst gelten muss.
In gewisser Weise ist Hans Kesselbach als literarische Figur dadurch ein Erbe Adrian Leverkühns. Man kann sagen, dass Nora Bossong als seit Langem in Berlin lebende Autorin über große Kenntnisse der Hauptstadt verfügt, die ihrem Buch zugutekommen, die Sprache aber aus Lübeck hat - in ihrer Dankesrede zum Thomas-Mann-Preis gab sie eine Liebeserklärung ans literarische Vorbild des Namensgebers der Auszeichnung ab (F.A.Z. vom 14. Juni 2021). Der Tonfall ihrer Prosa in "Reichskanzlerplatz" ist erkennbar daran geschult - was sich ja auch stilistisch angesichts der Handlungszeit auch anbietet. Wobei die Prosa allerdings auch bisweilen in ein Thomas Mann fremdes hohles Pathos abgleitet: "Ich spürte jenen dunklen Sog, den Schwindel beim Blick in den Abgrund, der uns entsetzt und dem wir uns deshalb umso hemmungsloser hingeben, und im Fallen stoßen wir an die grausamen Mächte in uns."
Zum Zeitpunkt der Handlung, als dieser Satz fällt, ist Magda Quandt mit Joseph Goebbels verheiratet. Diese durch die hohe Zahl der gemeinsamen Kinder (fünf Töchter, ein Sohn) und deren schreckliche Schicksale (vor dem Suizid ihrer Eltern wurden sie alle im Berliner Führerbunker vergiftet) seinerzeit wie heute prominenteste Familie des "Dritten Reichs" spielte vor fast dreißig Jahren schon einmal eine Rolle in einem herausragenden deutschen Roman: Marcel Beyers "Flughunde" aus dem Jahr 1996. Bossong nun nimmt nicht nur eine Fokussierung auf Magda Goebbels vor, sondern sie spart auch das Ende der Familie aus; die erzählte Geschichte endet 1944. Das ist mutig, denn die erwartbare Katharsis des Untergangs entfällt. Auch darin erliegen wir einer meisterhaften Täuschung.
Nora Bossong hat ihren Erzähler an einer realen Person orientiert: Fritz Gerber, einem Liebhaber Magda Goebbels, über den wenig bekannt ist. Wie auch so ziemlich alles, was im Roman von Magda Goebbels berichtet wird, jene Lücken füllen muss, die dieses Leben hinterlassen hat - es gibt außer ihrem Abschiedsbrief keine schriftlichen Selbstzeugnisse.
Diesen Brief schrieb sie ihrem an der Front stehenden Sohn aus erster Ehe. Harald Quandt sollte nach 1945 einer der einflussreichsten deutschen Wirtschaftskapitäne werden, aber darüber verliert "Reichskanzlerplatz" nur zwei Sätze, allerdings seine beiden letzten. Was Nora Bossong an den Schluss ihrer Abschnitte setzt, verdient Beachtung. Denn dort eröffnet sie weitere Erzählungen, die über den eigentlichen Inhalt ihrer Geschichte hinausgehen. ANDREAS PLATTHAUS
Nora Bossong:
"Reichskanzlerplatz".
Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
296 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.