Besprechung vom 03.03.2025
Setz dich hin und schrei
Sommercamp, früher: Liz Moore lässt in "Der Gott des Waldes" Kinder einer reichen New Yorker Familie verschwinden. Starke Frauen retten, was zu retten ist.
Die Great Camps in den Adirondacks sind kulturhistorisch bedeutsame Bauten aus einer für amerikanisches Empfinden tiefen Vergangenheit. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten wohlhabende New Yorker das zu den Ausläufern der Appalachen gezählte Mittelgebirge im nördlichen Bundesstaat New York als unberührtes Naturparadies mit Wäldern und Seen. Mithilfe Ortskundiger kauften sie für wenig Geld riesige Flächen und bauten inmitten der Wildnis überdimensionale Mischungen aus Blockhütte und Schweizer Chalet, als Rückzugsort, um Gäste einzuladen, als Ausgangspunkt für Jagden und Wanderungen. Zunächst im Geiste von Thoreaus "Walden", später mit neuzeitlichem Komfort ausgestattet.
Die Chance, sich von den Zwängen der New Yorker Gesellschaft zu lösen, ließen sich gerade jüdische Unternehmerfamilien - darunter Namen wie Kahn, Lewisohn, Guggenheim und Lehman - nicht nehmen. Das berühmteste Great Camp ist das Pine Rock aus dem Jahr 1877, das heute unter dem Namen Huntington Memorial Outdoor Education Camp firmiert und damit eines der möglichen Vorbilder ist für Camp Emerson, das in Liz Moores fünftem Roman "Der Gott des Waldes" eine Hauptrolle spielt. Benannt nach dem Dichter Ralph Waldo Emerson, dient es der New Yorker Bankiersfamilie Van Laar als Nachhaltigkeits-Feigenblatt.
In Sommercamps wird der Nachwuchs begüterter Eltern ins Leben mit der Natur eingeführt. Das Haupthaus der Eigentümer ist nach Emersons Essay "Self-Reliance" (1841) benannt. Höhepunkt des Camps ist ein Survival-Abenteuer, bei dem die jungen Gäste in dem schier endlosen Waldgebirge mit minimaler Ausstattung sich selbst überlassen werden. Wichtigste Regel: "Wenn du dich verläufst: Setz dich hin und schrei." Die Van Laars sind vom Geld deformierte Menschen, einzig auf das Wohlergehen der Firma fixiert und für dieses bereit, jeden Preis zu zahlen.
Der aktuelle Regent Peter III. hat in Gestalt von Alice eine Neunzehnjährige zur Frau genommen, die ihm einen Nachfolger gebar. Dieser von allen geliebte Peter IV., genannt "Bear", ist im Alter von acht Jahren nicht von einer Wanderung mit seinem Großvater zurückgekehrt. Den Verlust des Sohnes hat Alice nie überwunden, sie verdämmert ihre Tage alkohol- und tablettenvernebelt, gleichwohl sie ein Jahr nach Bears Verschwinden 1962 eine Tochter zur Welt brachte. Barbara ist zu einer exaltierten, rebellischen Dreizehnjährigen herangewachsen, die sich als Punk schminkt und die Wände ihres Zimmers bemalt. Um sie zu disziplinieren, steckt man sie 1975 ins hauseigene Sommercamp, wo sie sich mit der schüchternen Tracy anfreundet, die von ihrem geschiedenen Vater geparkt wurde, um den Sommer mit seiner neuen Freundin verbringen zu können. Dann verschwindet Barbara, 14 Jahre nach ihrem Bruder.
Schlagartig ist alles wieder da, bei den Einheimischen, bei der Polizei. Zwar wurde bei Bears Verschwinden ein örtlicher Feuerwehrmann als Mörder ausgemacht, der bald darauf einem Herzschlag erlag, aber es blieben Zweifel an dessen Schuld. Ebenfalls verdächtigt wurde ein Serienmörder namens Jacob van Sluiter, dessen Vorfahren ihr Land an die Familie Van Laar verkauft hatten. Diesem Unhold gelingt es im Sommer 1975, aus dem Gefängnis auszubrechen und in den Wäldern zu verschwinden. Er ist auf dem Weg zurück in seine alte Heimat.
Hat er Barbara auf dem Gewissen? Wie reagiert die Lagerleitung? Tessie Jo Hewitt, genannt T.J., hat den Posten von ihrem Vater Vic übernommen, der den Van Laars Jahrzehnte in dieser Position diente, jetzt ist er demenzkrank, wird von der Tochter versorgt. Wie reagiert die Familie? Wie Louise, die verantwortlich für die Hütte ist, die nun zwei Vermisstenfälle hat? State Troopers und Einheimische suchen vergeblich nach Barbara. Immerhin taucht die kurzzeitig ebenfalls verschwundene Tracy wieder auf. An der Spitze der Kriminalpolizei steht ein Mann, der sich schon im Falle Bear den Direktiven der Familie gebeugt hatte. Am unteren Ende der Befehlskette Judyta Luptack, die es aus prekären Verhältnissen mit Anfang zwanzig als eine der ersten Frauen in den USA zu den State Troopers geschafft hat und danach erste Kriminalpolizistin des Bundesstaates New York wurde. Sie agiert, hat Intuition und einen Vorgesetzten, der sie gewähren lässt. (Jüngere Leserinnen sollten versuchen, sich eine Welt ohne Frauen im Polizeidienst, ohne Internet und Smartphones vorzustellen.)
Liz Moore verteilt ihr episches Szenario auf mehrere Zeitebenen, beginnend in den fünfziger Jahren, als Peter III. Alice zu Frau nimmt, um gleichzeitig ein Verhältnis mit deren Schwester einzugehen. 1961 markiert das Todesjahr Bears, im Winter 1973 lernen wir John Paul McLellan kennen, Spross einer eng mit den Van Laars verbandelten Anwaltsfamilie. Sein Techtelmechtel mit Louise ist nicht standesgemäß; dass er sie schlägt, führt zweieinhalb Jahre später im Camp Emerson direkt ins Verhängnis.
In sieben Kapiteln konzentriert sich Moore auf acht Figuren, tatsächlich ist das Personal des Romans wesentlich umfangreicher, sind seine Geschichten eng miteinander verzahnt. Moore gestattet sich didaktisch wirkende Redundanzen, und ihre Diktion ist nicht frei von Floskeln wie "staunte nicht schlecht" oder "ein hübsches Sümmchen". Und schon 1975 ein Punk zu sein wie Barbara, ist vielleicht etwas früh. Aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was Moore mit ihrem im Vorjahr im Original erschienenen Roman gelungen ist. Die raffinierte Struktur des Plots und die kluge Schnitt-Regie sind der Schlüssel, literarische Ambition tritt dahinter zurück.
Frauen dominieren, und Frauen kann Moore auch besser, Männer geraten ihr eher holzschnittartig. Der Text bedient sich bei Elementen des Whodunit, Psychothrillers, Familienromans und Sozialdramas. Dazu kommt als stumme Spielfigur die latent bedrohliche Naturschönheit der Wälder, die literarische Echos von Thoreau bis Jon Krakauer evoziert. Liz Moore glückt eine Geschichte, die fortwirkt. HANNES HINTERMEIER
Liz Moore: "Der Gott des Waldes". Roman.
Aus dem Englischen
von Cornelius Hartz.
C.H. Beck Verlag,
München 2025.
590 S., geb.,
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