=Dämmerschlaf= ist eigentlich eine Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte medizinische Methode, um Geburtsschmerzen medikamentös zu behandeln. Hier in diesem Roman wird dieser Begriff allerdings nicht im eigentlichen medizinischen Sinn definiert, sondern er wird vielmehr als ein psychologisches Problem der rastlosen, reichen Gesellschaft der 20er Jahre dargestellt: Denn der Titel des Romans bringt das gesellschaftliche Leben der =Oberen Zehntausend= treffend und bezeichnend auf den Punkt: Ein Leben voller Müßiggang (arbeiten oder haushalten können andere, sprich: die Angestellten), voller gesellschaftlich wichtiger Verpflichtungen (sprich: jede Menge Parties, Bälle, Shopping-Touren ) wird hier mit viel Ironie und Sarkasmus im New York der goldenen 20er Jahre dargestellt,- man lebt sozusagen im =Dämmerschlaf= (das Leben zieht vorbei, ohne sich dessen eigentlich bewusst zu sein) vor sich hin (fast schon im wörtlichen Sinne, =dank= der ausgiebigen Alkohol- und Drogenexesse, denen sich die reiche Gesellschaft zum Teil freimütig hingibt), und huldigt angeblich großartigen Wunderheilern, die der gestressten Seele Heilung und Ruhe versprechen. Ein, wie ich finde, grandioses (vor allem ein authentisches) Sittenportrait der goldenen 20er Jahre hat Edith Wharton hier verfasst (denn der Roman erschien erstmalig 1927), und damit der damaligen Zeit und seinen gelangweilten Zeitgenossen darin schonungslos einen Spiegel vorgehalten.--- Kurz zum Inhalt: Pauline Manford, Ehefrau eines erfolgreichen New Yorker Anwalts, liebt es im Mittelpunkt zu stehen, von der Gesellschaft bewundert zu werden, große Probleme höchst taktvoll wegzulächeln und klein zureden und die neuesten Wunderkuren auszuprobieren. Außerdem sind ihre großen, durchorganisierten Gala- Dinner legendär- während sich ihr Gatte zunehmend mehr und mehr in seiner langjährigen, durchorganisierten, von einer fast täglich anstehenden gesellschaftlichen Verpflichtung zur nächsten hetzend und sterilen, oberflächlichen Ehe langweilt. Er ist all den ganzen gesellschaftlichen Verpflichtungen überdrüssig, sehnt sich nach Ruhe und einem gemütlichem Heim. Als dann ein furchtbarer Skandal die New Yorker Gesellschaft aufschrecken lässt, und sich auch noch Paulines Schwiegertochter Lita scheiden lassen will, weil sie sich zu Tode langweilt und, als moderne junge Frau auf Selbstverwirklichung beharrt, gerät Pauline Mansfields Welt, samt ihrer antrainierten, wohlerzogenen Gelassenheit, gefährlich ins Wanken...---Der Ton, den die Autorin mitunter anschlägt, oder viel mehr ihr Schreibstil, ist häufig unterschwellig, manchmal aber auch ziemlich offensichtlich, sehr bissig und ironisch, so als würde sie sich selbst über die Lebensweise oder Charakterzüge ihrer Roman- Akteure, die ja eigentlich die Lebensweise und Ansichten ihrer eigenen Generation darstellen und widerspiegeln, amüsieren, sich lustig machen, oder diese auch ganz bewusst durch den viel gerühmten Kakao zu ziehen, um so einfach versuchsweise ihrer eigenen Generation deren oberflächliche Lebensart vor Augen zu führen. Damit die obere, reiche Gesellschaft erkennen möge, wie leer und sinnfrei ihr Leben tatsächlich ist, trotz (oder gerade wegen) der vielen Möglichkeiten der Zerstreuung.-- Interessanterweise werden im Roman verschiedene Charaktere, die eigentlich unterschiedlicher nicht sein können, gekonnt in Szene gesetzt und gegenüber gestellt: die, die sich (für die damalige Zeit richtig revolutionär) =modern= bezeichnen und von Selbstverwirklichung, ohne gesellschaftliche Zwänge (wo man sich auch einfach mal scheiden lassen kann), träumen- und solche, die im Geiste noch in den Gründerzeitjahren, also äußerst konservativ, steif, unterkühlt und ohne jegliche Gefühlswallungen, leben.-- Eigentlich wirft dieser alte Roman- Klassiker von 1927 seine Schatten voraus auf unser hochmodernes 21. Jahrhundert, spiegelt, meines Erachtens, in vielerlei Hinsicht unsere eigene getriebene, gestresste, =bespaßt sein wollende= Gesellschaft wider, ist eigentlich immer noch top- aktuell. Aber darauf näher einzugehen wäre eine ganz andere Buch- Geschichte, nämlich, die der unzähligen, modernen, populärwissenschaftlich- gesellschaftskritischen Sachbücher, die immer mehr (auch zurecht) auf den Buchmarkt drängen.-- Mich hat der Roman =Dämmerschlaf= jedenfalls sehr amüsiert, stellenweise aber auch nachdenklich gemacht und ich hatte viel Spaß beim Lesen!