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Besprechung vom 04.08.2022
Eine leidgeprüfte Lebedame
Nach 220 Jahrenerstmals auf Deutsch: Maria Edgeworths Roman "Belinda" bietet bühnenreifen Witz, peinliche Klischees und übersetzerische Überraschungen.
Manche Personenbezeichnungen lassen sich anscheinend nur im Maskulinum angeben. Ein Libertin, der in Genuss und Luxus lebt, die Frauen wie die Mode liebt und sich mit ihnen in der sogenannten besseren Gesellschaft ein ausschweifendes Dasein gönnt, das herkömmliche Vorstellungen von Moral und Anstand umstandslos beiseitelässt, wird im Deutschen gern als "Lebemann" bezeichnet. Wie aber sollte man dazu die weibliche Form bilden?
Vor diese Frage stellt uns Lady Delacour, die mit Abstand interessanteste Figur dieses Romans. Sie ist reiche Erbin, Mittelpunkt der Londoner Society des späten achtzehnten Jahrhunderts, Vergnügungen wie Maskeraden ebenso leidenschaftlich zugetan wie der Mode, dem Spott, der Intrige und der Klatschsucht. Da sich ihr Gatte ohnehin lieber den Pferden widmet, hat sie ausgiebig Gelegenheit zur Regelung der sämtlichen Affären und Koketterien, die sie pflegt - eigene wie andere - und dabei, wenn es sein muss, selbst vor einem Duell mit Pistolen nicht zurückschreckt, das sie in Männerkleidung ausficht. Jungen Damen wie Belinda auf der Suche nach dem Ort im Leben kann sie naturgemäß mit allerhand Erfahrungsweisheiten aufwarten wie zum Beispiel: "Eine Frau kann immer eine Frau stärker hassen als einen Mann, es sei denn, sie war in ihn verliebt." Oder: "Es ist nie zu spät für Frauen, ihre Meinung, ihre Kleidung oder ihre Liebhaber zu ändern."
So kann es kaum verwundern, dass Lady Delacour sich selbst als "rake" bezeichnet, ein eingeführter englischer Begriff, der eigentlich so viel wie Playboy, Lüstling oder Wüstling meint und jedenfalls klar männlich besetzt ist. Die deutsche Übersetzerin Gerlinde Völker ist daher zu einer kreativen Lösung aufgerufen und wählt "Lebedame", nicht ohne die Besonderheit der Wortprägung in einer Fußnote zu kommentieren. Tatsächlich sind es solche Überraschungswendungen, deretwegen sich die Neuentdeckung des Romans und seiner Autorin lohnt.
Ganze 220 Jahre nach Erscheinen ist "Belinda" jetzt erstmals auf Deutsch zu lesen. Dabei galt die Verfasserin Maria Edgeworth (1767 bis 1849) im frühen neunzehnten Jahrhundert als führende Vertreterin ihrer Kunst und wurde nicht nur von heute so bekannten Größen wie Jane Austen, Walter Scott oder Iwan Turgenjew als Vorbild verehrt, sondern auch von ihrem Verleger mit so substanziellen Vorschüssen bezahlt, dass sie die kommerziell erfolgreichste Autorin ihrer Zeit war. Das Geld hatte sie gar nicht nötig. Sie entstammte dem protestantischen angloirischen Landadel und verbrachte ihr gesamtes Leben, wenn sie nicht gerade die Saison in London, Paris oder Genf wahrnahm, im gesicherten Wohlstand des Familienguts in Irland, um das sie sich selbst engagiert kümmerte. Auch gesellschaftspolitisch war sie zeitlebens aktiv, besonders was Frauenrechte und Frauenbildung anging. Schon bevor sie als Romanautorin debütierte, war sie durch aufgeklärte pädagogische Streitschriften bekannt geworden.
"Belinda" (1801) ist ihr zweiter Roman und ihr erster, der sich dem Gesellschaftsleben widmet. Dabei ist sein Handlungsmuster so konventionell wie absehbar und offenkundig zeitgenössischen Erfolgsgeschichten wie Fanny Burneys "Evelina" (1778) abgeschaut: junge Frau aus gutem Hause sucht perfekte Partie und kommt nach allerlei Verwirrungen und Hürden an ihr Ziel. Dazu bringt Edgeworth gleich das ganze Repertoire genretypischer Versatzstücke ins Spiel: lang vermisste und spät aufgefundene Familienmitglieder, unverhoffte Erbschaften, unerwartet eintreffende Freier, erwartbare Schwierigkeiten wie Rivalitäten bei der Durchsetzung des Glücksversprechens, notwendige Lösungen von hinderlichen Bindungen und verfehlten Vorstellungen, Bekehrung des verbohrten Helden zu seinem vorbestimmten Lebensglück und was sich in der einschlägigen Literatur sonst noch alles findet.
Bis hin zum Namen der Titelfigur sind sehr viele Einzelheiten literarischen Quellen entnommen, die auch noch fortwährend zitiert (und von der Übersetzerin dankenswerterweise in den Fußnoten erklärt) werden. Durchweg spürt man bei der Lektüre, dass die Autorin die gesellschaftliche Welt, die sie hier zeichnen will, noch kaum aus eigener Anschauung kennt und daher fleißig kolportiert. Hinzu kommen zeittypisch peinliche Klischees, wie der geldgierige Jude Salomon und der treusorgende schwarze Diener Juba, der seinen Herrn ("Du rauben mein Massa aus?") wacker verteidigt und dabei doch nur mit dem gleichnamigen Hund verwechselt wird.
Was den Roman rettet und trotz vieler Längen lohnend macht, sind drei Eigenheiten. Erstens bietet er ein paar hinreißende Dialog-Szenen von wirklich bühnenreifem Witz und Schmiss, beispielsweise wenn Sir Philip Baddely der Heldin einen Heiratsantrag macht (den sie, ganz Tugendboldin, selbstverständlich zurückweist) und er dabei, je mehr ihn ihre Ablehnung verstört, immer verzweifelter mit seinem kurzen Stöckchen spielt. Zweitens gibt es etliche Passagen, wie das obligatorisch versöhnliche Finale, in denen die Figuren über ihre zugedachte Rolle als Romanpersonal, das üblichen Erwartungen entsprechen muss, sehr sinnreich räsonieren: eine erzählerische Ironie seitens der Autorin, wie wir sie zuweilen von Jane Austen kennen (das heißt: jetzt als Austens Anleihe bei Edgeworth erkennen), und zugleich Spiel mit Konventionen der Fiktion, die alle Harmoniesucht augenzwinkernd einer mitspielenden Leserschaft anheimstellt.
Und drittens gibt es Lady Delacour, die heimliche Hauptfigur, deren beißende Bonmots und pikante Eskapaden, wie sich zeigt, ein Trauma bergen: Nicht nur hat der Rückstoß der Pistole beim Duell ihr dauerhaft die Brust verletzt, sie glaubt sich selbst an Brustkrebs leidend und muss sich auf eine - wie sie es vielsagend nennt - Amazonenoperation vorbereiten. Wie sich die solcherart versehrte Weiblichkeit im gesellschaftlichen Stellungsspiel gleichwohl behauptet und in der Geschlechterordnung machtvoll ihren Weg bahnt, zählt zu den stärksten und bemerkenswertesten Aspekten des Romans. Man muss es daher eigentlich bedauern, dass diese leidgeprüfte Lebedame letztlich doch dem Idealbild der Autorin vom Glück in häuslicher Bescheidung unterworfen und zu einem tugendhaften Lebenswandel bekehrt wird. Aber wie sie selbst bemerkt, ist es für eine Frau niemals zu spät, die Meinung und die Vorlieben zu ändern. TOBIAS DÖRING
Maria Edgeworth:
"Belinda". Roman.
Aus dem Englischen von Gerlinde Völker. Nachwort von Katrin Berndt. Reclam Verlag, Ditzingen 2022.
608 S., geb.
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