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Besprechung vom 26.02.2022
Mehr Pestizide helfen keinem
Auch Kleinbauern produzieren in vielen Teilen der Welt hohe Erträge: Vandana Shiva plädiert für eine neue Form der Landwirtschaft mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen.
Das Lebensmittelsystem ist für ungefähr dreißig Prozent der Emissionen von klimaschädlichen Gasen verantwortlich und einer der Hauptverantwortlichen für das Artensterben. Insofern ist die Forderung nach Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und einer Steigerung der Ernten eine große Herausforderung. Mehr Kunstdünger oder mehr Pestizide taugen offensichtlich nicht mehr als Antwort, aber wie eine Neuausrichtung aussehen soll, ist eine politisch und auch wissenschaftlich umstrittene Frage.
Die indische Autorin und Aktivistin Vandana Shiva ist eine der radikalsten Stimmen, die nach einem Umbau der Landwirtschaft und des Lebensmittelsystems ruft. Seit Jahrzehnten kritisiert sie die Agrargroßindustrie, die, so lautet ihr Vorwurf, mit Chemie und Gentechnik den Planeten plündert, die Gesundheit der Menschen gefährdet und nachhaltige Anbauweisen untergräbt. Shivas Antwort auf die Herausforderungen ist die Agrarökologie, deren Grundsatz es ist, das Landwirtschafts- und Ernährungssystem ganzheitlich und nach ökologischen Prinzipien umzukrempeln.
Als soziale Bewegung geht die Agrarökologie weiter als die ökologische Landwirtschaft, indem sie Landwirte, Verarbeiter und Verbraucher in Entscheidungsprozesse einzubinden versucht und auf eine sogenannte Ernährungssouveränität - das Recht aller Völker und Länder, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selbst zu definieren - setzt. Ob die Agrarökologie das Versprechen erfüllen kann, für Ernährungssicherheit und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, ist noch offen, aber agrarökologische Prinzipien haben schon - allerdings ohne die gesellschaftspolitischen Ambitionen - Einzug in die EU-Politik gehalten.
Vandana Shiva hat, was wenig überrascht, mit ihrer radikalen und oft atemlos vorgetragenen Kritik keine Freunde bei Vertretern der konventionellen Landwirtschaft. Allerdings wird ihr oft nachlässiger Umgang mit Fakten auch in Kreisen kritisch gesehen, die eigentlich auf ihrer Linie liegen. In ihrem neuen Buch ist abermals festzustellen, dass sie scharfe und korrekte Beobachtung mit zweifelhaften oder falschen Behauptungen verbindet.
Sie identifiziert unbestreitbar bedeutsame Probleme, doch sobald sie zur Feinanalyse kommt, verirrt sie sich häufig in einem Geflecht aus fragwürdigen Postulaten, die ihre Lösungsvorschläge wenig überzeugend klingen lassen. So herrscht zum Beispiel kein Zweifel daran, dass Bestäuber eine zentrale ökologische Funktion ausüben und dass viele Wildbienenarten gefährdet sind. Aber Shiva stellt die Rolle von Bestäubern für die Nahrungsmittelproduktion missverständlich dar. Die zwölf Pflanzenarten, die weltweit für neunzig Prozent der Nahrungsversorgung verantwortlich sind (Reis, Weizen, Mais, Sorghum, Hirse, Roggen, Gerste, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Cassava, Bananen und Kokosnüsse), werden nicht von Insekten bestäubt, sondern sind wind- beziehungsweise selbstbestäubt oder werden vegetativ vermehrt. Allerdings wird die Vielfalt der Ernährung von der Häufigkeit und Vielfalt von Bestäubern beeinflusst.
Shiva behauptet zudem, die Belastung mit Arsen in Reis aus Südasien sei vor allem auf den Einsatz von Pestiziden zurückzuführen. Arsen ist jedoch ein Produkt geochemischer Verwitterungsprozesse - die Belastung wird nicht durch Pestizide verursacht. Landwirtschaftliche Praktiken, vor allem die Bewässerung, bestimmen weitgehend den Arsengehalt der Nahrung.
Shiva sieht sich als Verteidigerin der Kleinbauern, die aus agrarökonomischer Sicht meist nicht als besonders effiziente Produzenten betrachtet werden. Im Umfeld von Nichtregierungsorganisationen kursiert seit Jahren die Behauptung, siebzig Prozent der von Menschen verzehrten Lebensmittel würden von Kleinbauern produziert. Auch Shiva erwähnt diese Zahl. Dabei handelt es sich aber eher um Wunschdenken als um nachprüfbare Tatsachen.
Eine Beobachtung Shivas ist in diesem Zusammenhang jedoch korrekt: Obwohl der Trend weltweit seit Jahrzehnten zu immer größeren Betrieben geht, zeigen Daten seit Langem, dass sich dies sich nicht notwendigerweise in größerer Produktivität niederschlägt. In vielen Teilen der Welt produzieren Kleinbauern mehr Ertrag pro Fläche als Großbetriebe. Neue Untersuchungen bestätigen dies und belegen darüber hinaus, dass Kleinbauern dabei mehr biologische Vielfalt erhalten als in der großflächigen, industrialisierten Landwirtschaft.
Diese Daten zeigen darüber hinaus, dass Kleinbauern mehr als dreißig Prozent der Nahrungsmittelversorgung auf vierundzwanzig Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche erwirtschaften. Dies ist weit entfernt von den behaupteten siebzig Prozent, zeigt aber nichtsdestotrotz, dass kleine Familienbetriebe einen wichtigen Beitrag zur Lebensmittelsicherheit leisten und weniger zerstörerisch auf die biologische Vielfalt einwirken.
Vandana Shivas Diagnosen und Lösungsvorschläge lassen sich nicht ohne Weiteres auf europäische Verhältnisse übertragen. Dies gilt insbesondere für ihre Kritik an gentechnisch veränderten Pflanzen. In Nord- und Südamerika dominieren bei Mais, Soja und Raps tatsächlich gentechnisch veränderte Sorten den Anbau. In der EU wird jedoch auf nur ungefähr hundertfünfzigtausend Hektar genveränderter Mais angebaut - fast ausschließlich in Spanien. Das entspricht einem Bruchteil eines Prozentpunktes der landwirtschaftlich genutzten Fläche der EU. So können in der EU gentechnisch veränderte Pflanzen nicht für die angeblich von diesen Pflanzen verursachten Umweltschäden oder auch für die wirtschaftlichen Abhängigkeiten verantwortlich sein.
Aber auch europäische Landwirte sind abhängig - von den Erzeugern von Saatgut oder Düngemitteln, vor allem jedoch von den Abnehmern ihrer Erzeugnisse. Vandana Shivas leichtfertiger Umgang mit Fakten und Daten lässt allerdings offen, ob der von ihr propagierte Weg wirklich die einzig richtige Lösung ist. THOMAS WEBER
Vandana Shiva: "Wer ernährt die Welt wirklich?" Das Versagen der Agrarindustrie und die notwendige Wende zur Agrarökologie.
Aus dem Englischen von Andreas Lentz. Neue Erde Verlag, Saarbrücken 2021. 256 S., br.
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