Besprechung vom 12.10.2024
Mit vollen Segeln auf dem Weg zum Decodieren der Liebe
Friedrich Kittler hätte seine helle Freude an diesem Stoff gehabt: Bram Stokers Roman "Das Geheimnis der See" bietet eine wilde Abenteuer- und Albtraumgeschichte.
Von Jürgen Kaube
Von Jürgen Kaube
Hätte die erste Geisterbahn nicht erst 1930 im Seebad Blackpool ihren Betrieb aufgenommen, wir könnten sie als Modell für diesen Roman bezeichnen. In jedem seiner 53 kurzen Kapitel bricht eine neue Wunderlichkeit hervor, fährt kurz über die Köpfe der Leser hinweg, die sich wegducken, während der Autor, der sie auf waghalsigen Kurvenfahrten durchrütteln lässt, auf einen roten Faden pfeift.
Die Handlung setzt so ein: Der Erzähler, ein junger Anwalt, der fast fünfhundert Seiten lang Ferien in Schottland machen wird, ist überwältigt von den Gewalten des Meeres und der gefährlichen Küste. Gleich auf der ersten Seite erfährt er von seiner Gabe des zweiten Gesichts - er ahnt Todesfälle vor ihrem Eintritt - und macht die Bekanntschaft einer unheimlichen alten Frau namens Gormala, die ähnlich heimgesucht von Prophezeiungen ist. Sie raunt, schimpft und beschwört ihn, möchte ihn in die Welt des Aberglaubens ziehen, redet in Rätseln. Nach wenigen Abschnitten nennt er sie eine Hexe, was jedoch nichts an seinen Gesichten ändert.
Eines Nachts erlebt er, wie ein Ortsansässiger ertrinkt und kurz darauf all die anderen Toten, die das Meer jemals verschlungen hat, als Untote in einem gespenstischen Marsch und chronologisch nach Sterbedatum angeordnet über die Klippen ziehen. Der fliegende Holländer und Hauffs "Gespensterschiff" sind nichts dagegen. Wieder bei wachem Bewusstsein, ersteigert der Anwalt, dessen Namen wir erst auf Seite 86 erfahren, denn er ist ja ein Ich-Erzähler, bei einer Auktion verschlüsselte Papiere. Kurz darauf ist er ein Seenotretter, und die See spült ihm eine junge Amerikanerin in die Arme. Natürlich ist sie schön und reizend. Wenige Seiten später macht er ihr, völlig ahnungslos, wer sie ist, einen Heiratsantrag. Beide stürzen sich auf die Geheimschriften und arbeiten auf der Grundlage von Francis Bacons Binärcode an einem Dechiffriersystem. Decodieren als erster Schritt zur Liebe: Friedrich Kittler hätte seine helle Freude daran gehabt. Hexe und zweites Gesicht werden vom Roman dann für Hunderte Seiten vergessen.
Im Weiteren tritt der amerikanische Geheimdienst auf sowie böse und ritterliche Fremde, werden Fahrradfahrten und eine Schatzsuche unternommen, auch eine Entführung findet statt. Es kommt zu vielen Diskussionen über die Rolle der Frau, aber auch des Schicksals unter modernen Umständen. Insbesondere was die Frauen angeht, ist der Roman unschlüssig. Mal heißt es, "kurz darauf bewies sie durch ihre Worte, dass sie letztlich doch nur eine Frau war". Mal heißt es, "als sie erkannte, dass sie ein Druckmittel besaß, begann sie es nach Art der Frauen sofort zu nutzen". Dann wieder wird in Gestalt der Amerikanerin eine völlig selbständige, weltzugewandte und mutige Frau geschildert, die der vielen Heiratsanträge wegen, die sie als reiche Erbin ereilten, von Amerika nach Europa geflüchtet ist, nicht ohne zu bedauern, dass sie dort kaum noch Heiratsanträge erhielt. Die Geschlechterforschung hätte reiches Material an dieser Figur und am Autor.
Das Spiel der Liebe kann hier nur zu zweit gespielt werden. Die Verliebten reden, worüber sonst, endlos und nuancenreich über ihre wechselseitige Anziehung - und über den Spanisch-Amerikanischen Krieg. Erneut fahren wir mit der Geisterbahn. Schöne Landschaftsschilderungen wechseln sich mit Visionen ab, Albträume mit der Hingabe ans technische Bewusstsein, politische Intrigen mit ausgiebigen Frühstücken. Zwischendurch wird geheiratet. In der Hochzeitsnacht, die das Paar nicht gemeinsam verbringen kann, hackt der Bräutigam angestrengt ein Loch in den Kellerboden seines Hauses, um einen Zugang zur Schatzhöhle zu suchen. Schon wieder hören wir Friedrich Kittler lachen, wir sind in den Jahrzehnten der Psychoanalyse.
"Das Geheimnis der See" ist also ein wilder Seelen- und ein Abenteuerroman, eine "gothic novel", eine Spionageerzählung, ein Katalog der Tourismusbehörde von Aberdeen, eine Konversations- und Liebesgeschichte zwischen dem uralten Europa und der Neuen Welt, dem Anwalt in Trance und dem Mädchen aus Chicago, das in die träumerische Welt der heidnischen Altertümer hineinbricht wie die Familie von Hiram B. Otis ins Schloss von Canterville. Der Roman trägt mit der Ironie nicht so dick auf wie Oscar Wilde, aber auch in ihm ist die teils erschrockene, teils amüsierte Distanz des Europäers zu seinen Traditionen zu spüren.
Sein Autor Abraham Stoker, der sich Bram nannte, hatte mit "Dracula" 1897 eine der wenigen literarischen Figur geschaffen, die weltweit buchstäblich jeder kennt, den Ruhm seines Romans allerdings nicht mehr erlebt. Er starb 1912. Von Beruf war der Ire ein Londoner Theaterdirektor und Assistent des berühmtesten britischen Schauspielers seiner Tage, Sir Henry Irving. Die Ferien verbrachte er oft in Cruden Bay, einem kleinen Dorf an der schottischen Ostküste. Dort schrieb er große Teile von "Dracula" und machte die Gegend zum Schauplatz von "Das Geheimnis der See". Dort soll er auch, wie uns das Nachwort des Übersetzers unterrichtet, einer alten Frau begegnet sein, die ihm Modell für die Seherin Gormala stand.
Die ist im Roman eine Allegorie der Warnung davor, dass das Vergangene gar nicht vergangen sei. Und weil das Älteste, das uns umgibt, die Natur ist, stellt die Faszination durch sie, ihre erschreckende Gewalt und milde Schönheit, den Kontakt zu dem her, was überwunden nur scheint. Das Hineinragen alter Zeitschichten in die Gegenwart, die Fortdauer von Mythen wie historischen Vergangenheiten war ein Muster von Stokers literarischer Produktion. Mitunter spottet er im Roman über das Zeitbewusstsein seiner Mitwelt, etwa wenn von "meiner alten, vor einem Jahr angenommenen Gewohnheit" die Rede ist.
Die Skizzen der schottischen Küstenlandschaft, die Stoker zeichnet, sind die zweite große Leistung des Romans. Sie sind um Präzision bemüht und nicht sentimental, weil die Natur selbst nicht rücksichtsvoll ist. Noch in ihrer Schönheit liegt die Täuschung, sie habe einen gemütlichen Platz für ihre Betrachter vorgesehen. Die Natur hat uns aber gar nicht vorgesehen. "Wie alles Schöne auf Erden vergeht es und verhüllt nur den Kummer", lässt Stoker einen schottischen Schäfer getreu calvinistischer Gesinnung über den herrlichen Sonnenuntergang am Meer sagen.
Es ist tatsächlich wie in einer guten Geisterbahn. Wir halten die Fahrt und die Abfolge der Ereignisse für absurd, wir amüsieren uns über die Versatzstücke, der Ablauf kommt uns erwartbar vor. Und doch erschrecken wir uns, sind wir mitgenommen, schütteln wir am Ausgang unseren Kopf, weil so viel passiert ist. Es dürfte wenig Leser geben, die, wenn sie die Fahrt in diesem Roman zu Ende gefahren sind, nicht mit hundert Eindrücken und Gedanken wieder ins Leben zurückkehren.
Bram Stoker:
"Das Geheimnis der See".
Roman.
Aus dem Englischen
und hrsg.
von Alexander Pechmann.
Mare Verlag,
Hamburg 2024.
544 S., geb.
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