Besprechung vom 12.06.2018
Europasehnsüchtige Schattenwesen
Unkritische Klassikerliebe: Ein Band mit Erzählungen von Henry James wirft grundsätzliche Fragen zu Übersetzung und Kommentierung auf
Wenn Henry James seine literarische Autorschaft beschreibt, identifiziert er sie stets mit der Tätigkeit eines Juweliers. Seine Erzählungen bezeichnet er gegenüber seinen Romanen als "kleine Juwelen". Die Arbeit am Text entspricht aus seiner Sicht dem Schleifen des kostbaren Steines, um dessen innewohnenden Eigenschaften - seine hohe Lichtbrechung und das weite Reflexionsspektrum verschiedener Lichtstrahlen - zutage zu fördern. Immer wieder führt er an, die Kostbarkeiten nach dem Schliff "präzise fassen" zu wollen, so als würde er einen Diamanten in Gold fassen und ihn so zum Schmuckstück veredeln. In diese Poetik der Veredelung fügen sich auch James' Vorliebe für den Adel und seine Inszenierung von Frauenfiguren, die er als glanzvolle, tiefgründige, blendend schöne und doch undurchschaubare Wesen darstellt.
Den Schlussstein dieser allegorischen Poetik bilden die von James so genannten "reflectors", jene hochsensiblen Beobachterfiguren, die noch die feinsten Strahlen des geheimnisvollen Funkelns aufnehmen und - wie ihr Name sagt - ihrerseits reflektieren. Es ist also nur konsequent und der Qualität seiner literarischen Arbeiten angemessen, wenn man Henry James als brillanten Erzähler verehrt. Es hat ein wenig gedauert, bis er auch in der deutschsprachigen Leserschaft diesen Rang eingenommen hat. Aber nach gefühlt Hunderten James-Übersetzungen in den vergangenen fünfzehn Jahren ist er inzwischen auch hier zum Leserliebling avanciert.
Als gestalterisches Schmuckstück präsentiert sich auch die neueste, pünktlich zum 175. Geburtstag des Autors beim Mare-Verlag erschienene Sammlung von vier Erzählungen. In bedrucktes braunes Leinen gefasst, im Schuber vor der Außenwelt geschützt, tritt der Band in Gestalt des verehrten Klassikers auf. James gehört unbedingt in die Klassiker-Reihe genau dieses Verlages, der sich dem Meer verschrieben hat. Denn am Ende des neunzehnten Jahrhunderts konnte keiner so faszinierend wie James, der selbst aus den Vereinigten Staaten nach Europa übersiedelte, von den unbestimmten Weiten des Meers erzählen, die die beiden Kontinente trennen. Jener "Wüste aus Wasser im Sturm", die es zu seiner Zeit mit einer einwöchigen Reise zu durchschiffen galt, jenem ungreifbaren Zwischenzeitraum, der sich durch die Überfahrt öffnete, widmen sich die vier im Band versammelten Erzählungen.
So weit, so geschliffen und schmuck. Stellt sich nur die Frage, ob die vier vereinigten Erzählungen auch durch Mirko Bonnés Übersetzung sowie durch Handreichung mit einem Glossar und Nachwort Glanz entfalten. Die Antwort auf diese Frage muss gemischt ausfallen. In ihrer sprachlichen Qualität überzeugt Bonnés Übersetzung. Bis in die klanglichen Feinheiten fängt er die melodische Eigenart von Henry James' Sätzen ein, die in sanften Wellenbewegungen mitunter erst nach mehreren Zeilen ausbranden. Die Konzeption des Bandes hingegen weiß wenig zu überzeugen: Die beiden Erzählungen "Vier Begegnungen" und "Pandora" gehören zweifelsohne zu den Preziosen in Henry James' erzählerischem Gesamtwerk. Ihre Protagonistinnen, das europasehnsüchtige Schattenwesen Caroline Spencer einerseits, das draufgängerische "Selfmadegirl" Pandora Day andererseits, gehören zu James' ebenso facettenreichen wie unergründlichen Frauenfiguren. Beide Novellen sind perfekt gearbeitet, bis in die feinste Nuance ausgestaltet. Aber dafür sind sie eben auch schon mehrfach ins Deutsche übertragen worden und schmücken längst schon andere Sammelbände.
Die dritte Erzählung im Bunde, Henry James' Debüt "Tragödie eines Irrtums", die Bonné erstmals ins Deutsche überträgt, kann mit der literarischen Qualität der beiden "kleinen Juwelen" nicht mithalten. Durch einen Brief erfährt dort Hortense Bernier, dass ihr Ehemann Charles nach mehrmonatiger Reise aus Amerika zurückkehren wird. Wie eine Glasglocke stülpt sich von diesem Moment an die Beklemmung über sie, da sie zuvor doch auf geheimen Liebespfaden gewandelt war. Und so beschließt sie, den Mord ihres Mannes in Auftrag zu geben. Doch Hortense mag auf ihren blasierten Geliebten anziehend wirken, für den Leser bleibt ihr Charakter eindimensional, während der Plot mitsamt der Shakespeare imitierenden Verwechslung durchschaubar ist. Neben der späteren Lebendigkeit der späteren Prosa von James gleicht die Erzählung einer steifgliedrigen Holzpuppe.
Die vierte Erzählung wiederum erreicht nicht einmal das Niveau des Debüts. Da sie zugunsten einer Polyperspektive, bei der mehrere Briefschreiber parallel von ihren Erfahrungen berichten, auf die für James so charakteristische Erzählstimme verzichtet, verliert sie ihre Fassung und verläuft sich in den eigenartigen Erfahrungen und Eindrücken der einzelnen Beobachter. Zwei Klassiker neben zwei Erstübersetzungen mit fragwürdiger Qualität - wozu diese Auswahl aus der Vielfalt von James' Erzählungen?
Glossar und Nachwort, mit denen die erzählerischen Juwelen für die Gegenwart neu gefasst werden müssten, kommen über das Mittelmaß leider nicht hinaus. Zu behaupten, James habe der Beschleunigung des Lebens staunend gegenübergestanden, mag richtig sein, gehört aber zu den erklärungsfreien Leerformeln jeder Moderne-Erzählung. Spätestens seit 1800 wäre doch eher bemerkenswert, wenn die Beschleunigungs-Erfahrung einmal irrelevant werden würde. Problematisch wird der Band auf diskursiver Ebene. Nehmen wir, weil es bei Erzählungen, die zwischen Amerika und Europa changieren, auf der Hand liegt, die Frage nach dem Rassismus. Da würde man sich von einem Herausgeber eines Klassikers einen klaren Kurs wünschen. Aber hier wird man in der Erzählung "Wie man es sieht", die in Briefform unmittelbar aus Figurenperspektive erzählt, gleich dreimal mit dem Begriff "Neger" konfrontiert. Im Original steht an diesen Stellen "negro". Hat der Übersetzer das Wort in "Neger" überführt, um den rassistischen Blick der Perspektivfiguren klar vor Augen zu führen? Oder ist ihm das etwa unterlaufen? Warum gibt es dazu weder im Glossar noch im Nachwort eine Erklärung? Vor allem wenn der Übersetzer im Kontrast dazu in der letzten Erzählung den Begriff "blackamoor" mit einem Kommentar versieht und erklärt, statt "Mohr" lieber "der schwarze Bediente" zu übersetzen? Ist diese Wendung rassistischer als die zuvor? "Blackamoor" geht nicht, "negro" aber schon? Oder begründet sich das Substitutionsprinzip daraus, dass an dieser Stelle der Erzähler spricht, und damit die Gefahr droht, er könnte mit dem Autor James identifiziert werden?
Und wenn man "blackamoor" erklärt, warum lässt man dann die nachfolgende Wendung kommentarlos unter den Tisch fallen? James' Erzählerfigur behauptet nämlich: "Count Otto called the next day, and Mrs. Steuben's blackamoor informed him, in the communicative manner of his race, that the ladies had gone out." Bei Bonné heißt es hingegen: "Mrs. Steubens schwarzer Diener informierte ihn jedoch so gesprächig, wie es seine Art war, dass die Damen aus dem Haus gegangen seien." Das will man als Leser einer Klassiker-Ausgabe schon (kommentiert) wissen, wenn bei James anders als bei Bonné die persönliche Art des Bediensteten keine Rolle spielt. Zumal, wenn James hier direkt den rassistischen Topos des "geschwätzigen Schwarzen" aufruft, dem es vermeintlich aufgrund von geistiger Schwäche unmöglich sei, auf den Punkt zu kommen.
Nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, Henry James zu verteufeln oder alle Wendungen dieser Art einfach auszumerzen. Aber bei aller Klassiker-Veredelung sollte eine solche Ausgabe doch zeigen, wo auch ein brillanter Erzähler eindeutig Kind der rassistischen Stereotype seiner Zeit war. Und sie sollte sich zu diesen Einschlüssen in das brillante Erzählen eindeutig und klar positionieren. Ein Klassiker muss die gegenwärtigen Debatten aushalten. Literarische Juwelen verlieren dadurch nichts.
CHRISTIAN METZ
Henry James: "Vier Begegnungen".
Erzählungen.
Aus dem Englischen
und hrsg. von Mirko Bonné. Mareverlag, Hamburg 2018. 271 S., geb.
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