Besprechung vom 24.02.2018
Die Folterkammer der türkischen Polizei
Flucht in die Phantasie: Burhan Sönmez erzählt seinen Roman "Istanbul. Istanbul" im Geist von Kafka, "Tausendundeiner Nacht" und des "Dekameron".
Istanbul ist ein Brennglas der Geschichte, archaisch und hochmodern zugleich, und ein Schnittpunkt aller Kulturen der Welt. Im Roman liest es sich so: "Istanbul glich den Wassern des Bosporus, die Oberströmung fließt von Norden nach Süden, die Unterströmung aber in umgekehrte Richtung. Lebensläufe, die gleichzeitig aber unterschiedlich, parallel zueinander aber in unterschiedlichen Epochen verlaufen, beweisen, dass der Raum die Zeit beherrschen und die Zeit sich wie ein Strudel an unterschiedlichen Punkten konzentrieren kann." Das also, dieses Gewebe aus Wirklichkeit und Fiktion, aus Erscheinung und Erfindung, Phantasma und Realität, ist Handlungs- und Projektionsfläche für "Istanbul. Istanbul" von Burhan Sönmez. Nach "Kuzey" von 2009 und "Masumlar" von 2011 ist es sein dritter Roman, in dem vor allem die Gewalt ein zentrales Motiv ist.
Der türkisch-kurdische Schriftsteller und studierte Jurist, der sich immer wieder gegen die Verletzung der Menschenrechte engagierte, hat Gewalt am eigenen Leibe erlebt. Schwer verletzt musste er 1996 nach einem Übergriff der Polizei mit Hilfe der Freedom-for-Torture-Stiftung nach England gebracht und dort lange Zeit gepflegt werden. Es mag also sein, dass dieses traumatische Erlebnis auch zum Entstehungsgrund für den Roman geworden ist, der bei seinem Erscheinen 2015 in der Türkei auf ebendie politischen Verhältnisse traf, die er stofflich entfaltet: Widerstand und Kritik am System werden mit Gewalt unterdrückt. "Istanbul. Istanbul" ist ein mutiges Buch, ein politisches und poetisches gleichermaßen, wenngleich sich die narrativen Linien und Erzählpositionen schnell zu verwirren beginnen und in zahlreiche Nebenmotive verzweigen.
"Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz", lautet der erste Satz im Roman, und er ließe sich umkehren in: Eigentlich ist es eine kurze Geschichte, aber er machte sie lang. Denn die Grundidee des Romans, seine Mechanik, von der aus die Ströme des Erzählens in Gang gesetzt werden, ist schnell referiert: Vier Häftlinge sitzen in einer Zelle und erzählen sich Geschichten, ganz nach dem Vorbild von Scheherazade in "Tausendundeiner Nacht", die an einer Stelle auch kurz erwähnt wird. E sind der Student Demirtay, der Doktor, der Barbier Kamo und Onkel Küheylan, ein alter Mann. Das Gefängnis existiert irgendwo in der Unterwelt von Istanbul, von der aus die Oberwelt zu einem Phantasma wird, zu einer Vorstellungswahrheit. Alle warten sie darauf, zur Folter abgeholt zu werden, um dann schwer misshandelt wieder auf ihren Matratzen zu liegen und weiter über Gott und die Welt, Zeit und Existenz nachzudenken.
Dieses Gefängnis ist irreal, ein Nichtort, ein Purgatorium. Die äußere Zeit löst sich auf und geht ein in die Zeit des Erzählens: "In den ersten Tagen hier war man nicht in der Lage, den Ort zu realisieren. Man zermarterte sich das Hirn, war aber unfähig, eine Verbindung zwischen Zelle und sich selbst herzustellen. Dann fing man an, sich über die Zeit Gedanken zu machen. War, was man in der Stadt oben erlebt hatte, ein paar Wochen her oder ein paar Jahrhunderte?" Auch erfahren wir nicht, wessen die Häftlinge beschuldigt werden und was die Motive der Folterer sind. Nur eines scheint immer wieder hervor: Sie dürfen ein Geheimnis nicht verraten, das eng verflochten mit der Mythologie ihrer Stadt und deren Geschichte ist.
Damit nun niemand unter der Folter von dem etwas preisgibt, was über das wahre Leben erzählt worden ist, werden Märchen, Legenden und Erfindungen an dessen Stelle gesetzt. Darüber hinaus ist die Folter reine Lust am Exzess und von jeder Begründungslogik frei: "Sein Gesicht hatte nichts Menschliches mehr an sich. Die Lippen geschwollen, die Zunge hing ihm aus dem Mund. Die Brauen gespalten, die Augen zugeblutet. Aus den Wunden in seiner Brust quoll der Eiter." - "Sie steckten mir Nadeln in die Ohren. Sie gossen mir etwas ins Ohr, ich weiß nicht, was." So geht das in jedem der zehn Kapitel zu, immer aufs Neue, wie in einer Wiederholungsschleife. Es ist eine Maschine, die foltert, ein System, dessen Personal kalt funktioniert, aber selbst ununterscheidbar geworden ist und nichts Menschliches mehr kennt. Eine Gegenfigur zur systematischen Gewalt ist das hohe Pathos der Gefolterten, ihr Potential des Erduldens. Sogar eine Anspielung auf die biblische Kreuzigungsszene liefert das neunte Kapitel, in dem Kamo erzählt, wie ihm Nägel durch die Hände geschlagen werden. Die Auferstehung im Schmerz wird zur Metapher für Recht und Gerechtigkeit, und das macht die Folter absurd. Plötzlich sind wir ganz nah bei Kafka, auch wenn diese Referenz nicht erwähnt wird: "Küheyan und der Doktor dachten nach und fragten sich zugleich, warum seit zwei Tagen niemand zur Folter abgeholt worden war, warum alle Zellen sich selbst überlassen blieben. Weder gestern noch heute war irgend jemand geholt worden. Die Eisentür hatte sich nur zum Wachwechsel und zur Essensausgabe geöffnet. ,Die Vernehmer sind auch Menschen, täglich zehn, zwanzig Stunden foltern ist anstrengend . . .'"
Das könnte so in der "Strafkolonie" stehen oder auch im "Process" und gibt eine Anleitung vor, wie der Text zu lesen und zu verstehen sein soll, nämlich als Allegorie. Alles findet innerhalb eines Systems von Verweisungen statt, ist real und symbolisch zugleich. Auch die Sprache der Figuren bleibt indifferent und wird getragen von der Stimme des Autors, ohne diese leise Künstlichkeit und Ironie zu besitzen, wie wir sie bei Kafka kennen. Die Körper bei Kafka sind Sprach- und Beschriftungskörper, die im Namen eines Gesetzes gemartert werden und kaum wirklich Schmerzen erleiden, weil sie schon tot auf die Welt gekommen sind. Die Körper bei Sönmez entdecken genau dort ihre Freiheit, wo sie geprügelte und gepeinigte sind, sie sind menschlich, physisch, real. Sie auf eine Folie der Symbole zu legen, schwächt die konkrete Gewalt und lässt sie abstrakt und exemplarisch werden.
Dem nun entgegen stehen die vielen Erzählstränge selbst, die voller Bildlichkeit und Phantasiereichtum sind, konkret und realistisch, metaphorisch und surreal, anekdotisch und witzig oder philosophisch und ernst, je nachdem, was dem jeweiligen Erzähler gerade so in den Sinn kommt. Die Lust an der Sprache und am Sprechen, die sich aller nur möglicher Stilmittel bedient und am mythologischen Fundus kultureller Tradition orientiert, ist der ästhetische Gegenentwurf zur kalten Welt der Gesetze und des Martyriums. Es ist die Würde des entwürdigten Subjekts, in einem Strom der Sprache aus einer Zeit zu verschwinden, die im Folter-Akt stillsteht.
Diese Permanenz des Erzählens ist in eine zweite literarische Referenz eingebunden, die hier explizit wird: in "Das Dekameron" von Giovanni Boccaccio, das aus zehn mal zehn Novellen besteht, die sich sieben Frauen und drei Männer an zehn Tagen erzählen. Zehn Tage und zehn Kapitel umfasst auch der Roman und spielt ganz bewusst mit dieser Form, um ihr eine neue Bedeutung zu geben: Solange sie erzählen, leben sie, und das ist der Erzählung letzter Grund.
Eine alle Binnengeschichten verbindende Handlung sucht man dabei vergebens. Alles zerfällt zu einem diffusen Personal und zerfließt in unendlich viele Szenen, die durchaus auch von einem Erzähler erzählt werden könnten, weil ihre Tonlage immer auf demselben Niveau bleibt und jeder die gleichen Reflexionsschleifen dreht. Auch ist die Erzählperspektive nicht immer klar, denn es wird erzählt, von Figur zu Figur in wörtlicher Rede, und es wird erzählt, dass erzählt wird, indem sich der Erzähler plötzlich an den Leser wendet und die Diegese verlässt: "In der Zelle wiederholte sich das Leben. Während die Finsternis über uns bedächtig vor sich hin kreiste, erzählten unsere Worte von ein und demselben Menschen, durchquerten ein und dieselbe Stadt und banden sich an ein und dieselbe Hoffnung." Wer erzählt wem was und von wo aus? Wer spricht, wer sieht, wer handelt?
Diese Unschärfe macht gelegentlich Mühe und entschädigt dadurch, dass die Sprachwelt so mitreißend sein kann, so voller Rhythmus und Klang. Am Ende lösen sich die Erzählräume auf, Ober- und Unterwelt verlieren ihre Grenzen, und wir hören einen Chor aller Stimmen und Zeiten, eine Collage in der Verdichtung von Träumen: "Die Farbe unseres Lachens verblasste auf dem Grat zwischen Leben und Tod und strömte gleich einem Fluss ins Istanbuler Meer." Es ist eine Liebeserklärung an Istanbul - über alle Trauer hinweg.
KURT DRAWERT
Burhan Sönmez: "Istanbul. Istanbul". Roman.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. btb Verlag, München 2017. 285 S., geb.
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