1976, im Dresdner Vorort Gittersee: Karin ist 16, hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter im Haushalt, die ihrer Zeit als Blitzmädel hinterhertrauert. Karins Vater verzweifelt an der Reparatur seines Skodas wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht bei der Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen.
In diesem eindringlichen Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Besprechung vom 29.08.2023
War so etwas in Ordnung in der DDR?
Ein Debütroman mit dem richtigen Ton und den richtigen Fragen: "Gittersee" von Charlotte Gneuß
Wie war das damals, als man selbst sechzehn war? An der Schwelle zur Welt der Erwachsenen mit all ihren Erwachsenenproblemen und doch gefangen in den Kinderzimmern von ehedem - zudem einer Explosion von Gefühlen, Sehnsüchten und neuen Erfahrungen ausgesetzt. Karin Köhler, die Erzählerin des stimmungsvollen Debütromans von Charlotte Gneuß, ist sechzehn, als ihr Leben plötzlich Erwachsenendimensionen annimmt. Sie lebt Mitte der Siebziger in der Nähe von Dresden und hat einen Freund, der ist attraktiv verwegen. Paul Forster heißt er. Wenn Paul auf seiner Schwalbe durch Gittersee düst, schmiegt Karin sich an ihn. Zusammen mit Pauls bestem Freund Emmanuel Rühle fahren sie zum Klettern ins Elbsandsteingebirge. Das klappt ziemlich gut. Aber Paul will höher hinaus. Er will übers Sommersonnenwendfest zu "den Tschechen", zusammen mit Rühle. Zum Klettern, behauptet er. "Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert." Daran wird Karin sich später, als sie von der Stasi verhört wird, erinnern. Immer wieder diese Szene. Paul, sagen sie, habe rübergemacht. Er habe Kunst studieren wollen.
Klar hatte Karin Lust auf ein Abenteuer im Sommer 1976. Aber sie hatte eine kleine Schwester, um die sie sich kümmern musste, während die Eltern in staatseigenen Betrieben schufteten. "Sie arbeitete in Wismuts Großküche und roch nach Frittierfett", heißt es über Karins Mutter. Die Oma ist auch noch im Haus - eine strenge Matriarchin, die immer noch von ihren Kriegsabenteuern als Blitzmädel ("erst Minsk, dann Paris und schließlich die ganze Welt") schwärmt und ihren verstorbenen Mann dafür verachtet, dass er aus Feigheit, nicht aus Heldentum, desertiert ist. Vor Oma nimmt man sich lieber in Acht. Wenn "Vati", den Gneuß als sanften Versager mit einer Neigung zum Alkohol skizziert, mal wieder überfordert unter dem Skoda liegt, sagt Oma: "Wenn du wo anpackst, ist's, wie wenn zwei loslassen."
Auch wenn sich die Erzählerin auf Fragmente der Erinnerung verlässt, bekommt man bald ein realistisches Bild von diesem Familienleben, in dem man Zärtlichkeit kennt, aber auch Frust über ein falsches Leben im richtigen. Lust auf ein Abenteuer hat Karin deshalb, aber es geht gerade nicht, sagt sie Paul. "Ich nickte, und er nickte auch. Und du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe, flüsterte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann meinte er, dass Rühle bald käme. Ich lachte und sagte, bin ja schon weg, nahm sein Gesicht in beide Hände, küsste ihn auf den Mund und dachte, was ist er schön."
Am nächsten Tag klingelt ein Stasimann bei den Köhlers. "Wickwalz zupfte sich einen Fussel von der Hose und sagte, wir führen hier einen Krieg gegen ein tödliches Wirtschaftssystem, und dein Freund beschließt, Kunst zu studieren. Findest du das in Ordnung?" Es ist der Beginn einer Arbeitsbeziehung, in der sich die ganze perfide Dynamik der Manipulation entrollt. Wickwalz ist ein Mephisto von der attraktiven Gestalt. Man munkelt, er sei "vom anderen Ufer". Wenn Karin in Wickwalz' Auto sitzt, dort wie eine Erwachsene Zigaretten raucht, schiebt er den Beifahrersitz weiter nach hinten -"so ist es bequemer" - und schafft damit eine therapeutische Situation, in der eine sechzehnjährige mit Liebeskummer und Krach sich zu Hause, verstanden fühlen kann.
Vor allem Rühle sei, so Wickwalz, im Auge zu behalten. Karin erinnert sich jetzt an Arbeitseinsätze auf dem Feld. Da hatten Paul und die anderen Jungs Radio-Eriwan-Witze gerissen. "Anfrage an Radio Eriwan, bekommt man wirklich zehn Jahre, wenn man sagt, Stalin war ein Idiot. Im Prinzip ja, es ist schließlich ein Staatsgeheimnis. Anfrage an Radio Eriwan, was ist Chaos. Fragen aus der Landwirtschaft werden nicht beantwortet."
Später entdeckt Karin Notizhefte, die sie Wickwalz übergibt: "Er ging Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, Satzzeichen für Satzzeichen durch das Heft. Er sprach von Hohlräumen zwischen den Worten, er prüfte ihre Länge, ihr Maß, ihren Takt. Er fragte die Sätze nach ihrem Sinn, kettete die Anfangsbuchstaben der Verben, der Substantive, der Adjektive aneinander und schrieb neue Worte in sein altes Heft. Er strich die Satzzeichen und gab den Sätzen neue Sinne. Er strich die Kommas, er sagte, Kommas seien die Sollbruchstellen der Sätze, die Wendepunkte der Gedanken. Wickwalz sprach von Baumgraphen wie von alten Freunden und strich wie ein Magier übers Papier, als ob da nun ein Kaninchen heraushüpfte oder ein Hut oder Paul gar selbst."
Die Unterredungen mit der Staatsgewalt gehören zu den großen Schwebepartien dieses Buchs, in dem nie klar wird, ob ein Verrat vorliegt, und wenn, ob es ein Verrat an Paul ist oder einer am Staat oder einer an den Eltern oder einfach nur einer an sich selbst. Wie Charlotte Gneuß hier Informationen souverän dosiert, es aber auch versteht, Szenen wieder abbrechen zu lassen, ist bewunderungswürdig. In lässigem Rhythmus verknüpft sie die Erinnerungen an verliebte Nachmittage mit Paul und den Schulalltag mit Karins bester Freundin Marie, deren Vater vor dem Mauerbau im Westen geblieben ist, mit Situationen in Karins Elternhaus und Treffen mit Wickwalz. Aber sie zoomt auch in die Biographien von Eltern und Großeltern hinein. Dabei trifft sie den Ton der Siebzigerjahrejugend perfekt: "Nach der Schule ging ich zu Wismut. Rühles Moped stand bei den anderen. Ich klemmte den Brief zwischen Sitz und Motor. Ein älterer Mann stand um die Ecke und rauchte. Er zwinkerte mir zu. Sie haben da was am Auge, rief ich ihm zu, so Zuckungen, würd ich behandeln lassen."
Bis zum Schluss ist dieser Roman spannend, seine Figuren sind einprägsam, und sein Ende kommt völlig überraschend. Charlotte Gneuß hat mit ihrer Heldin Karin eine im entscheidenden Moment mutig entschlossene Figur geschaffen, der man noch einmal ins Leben der Anderen folgt, vor allem aber durch ihr eigenes sechzehnjähriges. KATHARINA TEUTSCH
Charlotte Gneuß: "Gittersee". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 237 S,. geb.
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