Besprechung vom 20.10.2023
Warum werden die nicht so wie wir?
Eingefahrene Ost-West-Debatten führen nicht weiter: Christina Morina spürt der Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik und der DDR nach.
Anfang Januar 2005 besucht der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) das Arbeitsamt Wismar in Mecklenburg-Vorpommern. Im Beisein zahlreicher Medien will sich Clement davon überzeugen, dass die Einführung von Hartz IV wie am Schnürchen läuft. Doch die Gefahr des Live-Termins lauert auf dem Gang, wo Clement unvermittelt einen Mann mittleren Alters fragt, was dieser gelernt habe. Er sei Schlosser, sagt der Mann, aber trotz vielfältigster Versuche habe er seit der Wiedervereinigung keinen Job mehr gefunden und sich stattdessen mit prekären und befristeten Beschäftigungsverhältnissen bei der Gemeinde und in Kultur und Sport über Wasser gehalten. "Handwerk auch nicht?", fragt Clement ungläubig. "Bei uns gibt's doch fast kein Handwerk mehr", sagt der Mann resigniert, und dass er sich zum "alten Eisen" abgelegt fühle.
Mit dieser eindrücklichen Szene schildert die Historikerin Christina Morina "die beredte Sprachlosigkeit, mit der die gigantischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen seit dem Umbruch von 1989/90 in der Berliner Republik verhandelt werden" und die - mitten in der noch ganz und gar nicht überwundenen Transformation - besonders den Ostteil der Republik bis ins Mark treffen. Die Begegnung sei als "ein Sinnbild für die rauen Zeiten zu sehen, die bald nach dem Sieg der Freiheit und dem Fest der Einheit angebrochen waren". Vor allem aber ist sie ein Beispiel, wie blind westdeutsche Verantwortungsträger auch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung für die Lage im Ostteil des Landes waren, wo sich Hunderttausende, deren Arbeitsplätze Anfang der Neunzigerjahre weggefallen waren, von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob und Maßnahme zu Maßnahme hangeln und dann oft bis hin zur Frühverrentung durchwurschteln.
Die politischen Folgen werden erst knapp ein Jahrzehnt später sichtbar, mit Pegida, vor allem aber mit dem Aufstieg der AfD, die zwar nicht in Mitgliederzahlen, aber bei Wahlen in Ostdeutschland erfolgreicher abschneidet als im Westen. Zudem bricht sich der Unmut im Osten besonders auf der Straße Bahn. Ob Finanzkrise, Migrationspolitik, Corona-Maßnahmen oder Heizungsgesetz - jedes Mal gehen Menschen in Ostdeutschland demonstrieren, um ihren Protest zu äußern. Für viele ist das ein probates und wirksames Mittel, hat man doch 1989 auf diese Weise gleich einen ganzen Staat, ja ein System zu Fall gebracht. Die vergleichsweise raue Protestkultur aber verwundert den Westen, der sich entsetzt über den Osten beugt und (vermeintlich) besorgt fragt, was denn da eigentlich los ist, gern auch verbunden mit elterlichem Kopfschütteln: Warum werden die nicht so wie wir?
Christina Morina, die 1976 in Frankfurt (Oder) zur Welt kam und heute an der Universität Bielefeld lehrt, steuert mit ihrer Monographie "Tausend Aufbrüche" nach Dirk Oschmann ("Der Osten - eine westdeutsche Erfindung") und Katja Hoyer ("Diesseits der Mauer") in diesem Jahr nun ein drittes Erklärungsbuch bei, das sich jedoch in vielerlei Hinsicht von den anderen unterscheidet. Es ist weniger eingängig geschrieben, doch hat es den Vorteil, dass sich die Autorin ausdrücklich nicht mit eingefahrenen Ost-West-Debatten aufhält, sondern einen anderen, neuen Blick wagt. Diesem liegt die Frage zugrunde, wie es zusammenpasst, dass die friedliche Revolution in der DDR immer wieder als Sternstunde der Demokratie gepriesen wird, zugleich aber der Begriff "Ostdeutschland" (west-)öffentlich synonym mit dem Wort "Demokratiegefährdung" gebraucht wird.
Für die Antwort hat Morina etwas ziemlich Einfaches gemacht: Sie hat die Entwicklung der Demokratie in beiden Teilen Deutschlands während der Teilung des Landes untersucht und sie als gesamtdeutsche Geschichte beschrieben. Damit löst sie schon mal einen wesentlichen Knoten, der bis heute fast alle Ost-West-Debatten zuschnürt, weil seit 1990 Westdeutsche ihre Deutungshoheit über den Osten nutzen und fortwährend in Wissenschaft und Medien den Ostdeutschen den Osten und die DDR erklären und unter jüngerer deutscher Vergangenheit allenfalls die westdeutsche verstehen. Kaum etwas aber regt Ostdeutsche mehr auf, als wenn sie - oft ungefragt und von Ahnungslosigkeit geprägte - Erläuterungen über ihr einstiges Leben in der DDR über sich ergehen lassen müssen.
Morinas Befund ist zunächst einmal, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR den Anspruch gab, aus dem Nationalsozialismus Lehren zu ziehen und eine bessere, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Während das im Westteil des Landes über die Jahrzehnte gelang, blieb der Ostteil zwar offiziell im Anspruch stecken. Doch der Demokratiebegriff, so die Autorin, habe im Osten nicht nur eine propagandistische Rolle gespielt, sondern sei eine wirkmächtige Formel gewesen. Ein nicht geringer Teil der Ostdeutschen habe trotz der SED-Diktatur die Demokratie nicht aufgegeben, sondern vielmehr eigene Demokratievorstellungen entwickelt und so versucht, dem Ideal gerecht zu werden. Das bis heute gezeichnete Bild von einer in Apathie verharrenden Gesellschaft treffe für die DDR so nicht zu, schreibt Morina.
1989 wurde schließlich das große Spektrum ost-demokratischer Ideen öffentlich. Es reichte von Volksinitiativen über direkte Bürgerbeteiligung bis hin zur Vorstellung, die Demokratie sei erst verwirklicht, wenn sie der Einzelne ohne Parteien mitgestalten kann. Darin kommt auch die Angst vor abermaligem Machtmissbrauch sowie vor Korruption in Staat und Verwaltung zum Ausdruck. Deutlich wird auch ein Grundmisstrauen gegenüber Parteien und Parlamenten sowie der Wunsch, möglichst viele in die Organisation des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einzubeziehen. Das alles findet laut Morina bisher jedoch kaum Beachtung, weil sich die Auseinandersetzung mit ostdeutscher Geschichte routiniert auf die Beschreibung als Diktatur beschränkt.
Dabei wirke die oft eigensinnige, von basis- oder volksdemokratischen Vorstellungen geprägte "Demokratieanspruchsgeschichte" des Ostens bis heute nach. Es sind unerfüllte Wünsche, weil mit der Wiedervereinigung die westdeutsche Demokratie übernommen, aber um keinerlei ostdeutsche Erfahrungen ergänzt wurde. Ausführlich geht Morina auf die vergebliche Diskussion um eine neue gesamtdeutsche Verfassung ein, die das Grundgesetz im Fall der Wiedervereinigung vorsah. 65 Prozent der Ostdeutschen plädierten in Umfragen damals für eine Änderung des Grundgesetzes, 58 Prozent der Westdeutschen dagegen. Spekulativ bleibt zwangsläufig die Frage, ob heute mehr Ostdeutsche die bundesrepublikanische Demokratie als die ihre annähmen, wenn sie auch eigene Vorstellungen hätten einbringen können. Überzeugt aber ist Morina davon, dass ein Teil des Erfolgs der AfD im Osten auch mit deren bürgerbewegt und volksdemokratisch propagierten Demokratievorstellungen zu erklären ist, die sich bei keiner anderen Partei finden.
Für ihre Arbeit hat Morina erstmals eine Vielzahl von Briefen ausgewertet, die Bürger im Westen an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker schrieben, und mit Briefen von Ostdeutschen aus der gleichen Zeit, meist Eingaben an die Staatsführung, die von der Stasi gesammelt wurden, verglichen. Darin werden verblüffende Ähnlichkeiten sichtbar, allen voran das in Ost und West ähnliche Staatsbürgerverständnis, das historisch bedingt zwischen Privat- und Staatsbürger trennt.
Das ist ein Beleg dafür, wie sehr sich die Mehrheitsgesellschaften in Ost und West trotz der damals bereits drei Jahrzehnte währenden Teilung ähnelten und ein weiterer Grund, die deutsche Geschichte zusammenzudenken. Und ganz nebenbei bekommt man in zahlreichen Beschwerden von Bundesbürgern über den Bundestagswahlkampf 1980 eine Ahnung davon, dass Polarisierung, Zuspitzung und Beschimpfung im politischen Diskurs ganz und gar nicht neu sind.
Wie sehr der übernommene Landesteil Ost marginalisiert wurde, macht auch die Debatte um Berlin deutlich, die bei Morina großen Raum einnimmt, auch weil es eine Flut an Zuschriften - diesmal aus Ost und West - an Richard von Weizsäcker gab. Er hatte sich für Berlin ausgesprochen und wurde deshalb massiv beschimpft. Dabei stand Berlin immer als Hauptstadt im Grundgesetz, es hätte gar keiner Debatte bedurft. Das vehemente Trommeln für Bonn aber war dann selbst einigen Westdeutschen peinlich, die von Weizsäcker aufforderten, standhaft zu bleiben. "Warum soll immer nur der Westen am längeren Hebel sitzen?", zitiert Morina eine Frau aus Schleswig-Holstein. Nach dem knappen Ausgang für Berlin weist Morina noch auf einen bisher wenig beachteten Umstand hin: dass damit auch für die Westdeutschen eine Ära zu Ende ging, womit viele noch lange haderten.
Das hätte freilich der Anfang einer neuen, gemeinsamen Demokratiegeschichte sein können. Doch im ost-west-deutsch-demokratischen Beziehungsgeflecht bleibt es kompliziert. Eine Mitverantwortung dafür sieht Morina ausgerechnet auch bei Angela Merkel, der sie vorwirft, ihre Herkunft und intime Kenntnis des Ostens als Bundeskanzlerin nicht stärker genutzt und ostdeutsche Erfahrungen nicht in ihr Regierungshandeln eingebracht zu haben. Merkel selbst hat das erst am Ende ihrer Amtszeit mit ihrer bemerkenswerten Rede in Halle getan, als sie an ihrem eigenen Beispiel ("Ballast") die Abwertung ostdeutscher Biographien schilderte. Um die gleiche Zeit äußerte sie zudem, dass sie "keine Lust" habe, "Experte für AfD-Wähler zu sein, weil ich aus der DDR komme". Die AfD, so das Fazit schon damals, ist kein ostdeutsches Spezifikum, sondern ein gesamtdeutsches Phänomen. Diese Erkenntnis jedoch scheint im Westen nun erst durch die Wahlen in Hessen und Bayern anzukommen. STEFAN LOCKE
Christina Morina: "Tausend Aufbrüche". Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren.
Siedler Verlag, München 2023. 400 S., Abb., geb.
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