Besprechung vom 11.07.2019
Klänge eines ungelebten Lebens
Mit Taktgefühl: Lea Singer beschreibt die Liebesgeschichte zwischen Vladimir Horowitz und dessen Schüler Nico Kaufmann
Als es einfach nicht mehr ging, als er zu oft Wassergläser nach Menschen geworfen hatte und die Kreisch-Duelle mit seiner Frau Wanda sich vor den Nachbarn nicht mehr verbergen ließen, da soll sich der Pianist Vladimir Horowitz in den Vereinigten Staaten einer Aversionstherapie unterzogen haben. Er wurde an einen Konvulsator angeschlossen und ließ sich Bilder zeigen. Bei nackten Männern bekam er zwei Stromstöße, bei nackten Frauen keinen. Danach war seine Motorik so gestört, dass an Konzertauftritte nicht zu denken war. Lea Singer beschreibt diese Umerziehungstherapie für homosexuelle Männer, die es tatsächlich gab und wohl immer noch gibt, in ihrem Roman "Der Klavierschüler". Und diese Beschreibung ist nur ein Detail für eine bedrückende Welt, der sich Schwule lange ausgesetzt sahen, eine Welt, die keineswegs überall zur Welt von gestern wurde.
Einer dieser Männer, der Schweizer Diplomat Reto Donati, hat im Frühjahr 1986 bereits professionelle Kräfte des Sterbehilfevereins "Ars M." engagiert, um unter Vortäuschung unheilbarer Depressionen Schluss zu machen. Warum er vor dem Giftcocktail doch noch davonläuft und auf Nico Kaufmann, den Pianisten einer Zürcher Nachtbar, trifft, gehört zu den fiktiven Konstruktionen dieses Buches. Das übrige Material ist zu weiten Teilen authentisch. Die Autorin - die unter ihrem richtigen Namen Eva Gesine Baur Biographien, unter dem Pseudonym "Lea Singer" Romane schreibt - konnte in Zürich Teile des Nachlasses von Nico Kaufmann einsehen. Kaufmann wurde 1937, mit 21 Jahren, für zwei Jahre der Klavierschüler und Geliebte von Horowitz. Briefe und Fragmente einer Autobiographie haben sich erhalten.
Aus diesem Material bezieht der Roman seine Dringlichkeit, weil Horowitz noch immer eine Figur des öffentlichen Interesses ist. Dabei teilt Singer nichts grundsätzlich Neues mit. Schon Glenn Plaskin hatte 1982 in seiner - vom Pianisten nicht autorisierten, gleichwohl auch nicht verbotenen - Horowitz-Biographie beschrieben, zu welchen psychischen und familiären Verwerfungen die unterdrückte Homosexualität des Künstlers geführt hatte. Auf der Website www.schwulengeschichte.ch kann man zudem umfangreiche, recht sachliche Artikel von Ernst Ostertag lesen, die dieser schon 2006 veröffentlicht hat und die viele Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Horowitz und Kaufmann, dazu Zitate aus Kaufmanns fragmentarischen Memoiren enthalten. Kaufmann selbst, 1996 verstorben, hat das Andenken an Horowitz so diskret bewahrt, dass er zu Lebzeiten damit ebenso wenig an die Öffentlichkeit gegangen war wie mit seiner engen Freundschaft zu Thomas Manns jüngster Tochter Elisabeth.
Singer geht es in ihrem Buch nicht darum, Geheimnisse auszuplaudern. Sexuelle Details interessieren sie gleich gar nicht. Küsse und Codes werden getauscht, ansonsten beschreibt sie mit großem Ernst, aber auch Taktgefühl eher die gesellschaftlichen Seiten einer geächteten Form von Sexualität: die Heimlichkeit, die Verachtung, den Druck, die Schuldgefühle, die Depressionen.
Horowitz selbst ist bei ihr nicht nur Opfer, sondern auch manipulativer Narzisst, der seinen Künstlerstatus als Machtgefälle nutzt, um bei Kaufmann Schuldgefühle zu erzeugen. Wie problematisch die Ehe zwischen Horowitz und Wanda Toscanini, der Tochter des Dirigenten Arturo Toscanini, war, wird erfreulicherweise mehr angedeutet als ausgekostet. Singer schlägt sich nicht einfach auf die Seite derer, die behaupten, der Toscanini-Clan habe Horowitz durch Demütigung das Rückgrat gebrochen. Bei ihr bleibt der Pianist, wenngleich in die Enge getrieben, eine wehrhafte Diva. Aber dass Wanda ihren Mann mit der Androhung eines Selbstmordes zur Trennung von Kaufmann erpresst hat, lässt Singer anklingen.
Bei allem Taktgefühl und allem Ernst werden an solchen Stellen die Probleme einer romanhaften Darstellungsweise spürbar. Man möchte die Quellen selbst kennenlernen und sie von den Interpretationen trennen können. Eine so schwerwiegende Behauptung, dass Sergej Rachmaninow, Horowitz' Idol und Mentor, Homosexuelle verachtet haben soll, würde man gern näher belegt sehen. Als Halbwüchsiger hatte sich Rachmaninow der Zudringlichkeiten seines Klavierlehrers Nikolaj Swerew erwehren müssen, was seine Verachtung erklären könnte, doch zugleich war er Protegé des ebenfalls homosexuellen Peter Tschaikowsky, den er schwärmerisch verehrte. Was Kaufmann, was Horowitz mit Rachmaninow erlebt haben, wüsste man gern genauer.
Dennoch setzt Singer künstlerisches Handeln und biographische Umstände sensibel und keineswegs platt zueinander in Bezug. Horowitz' einzigartig persönliches Klavierspiel, in dem der Klangreiz des Augenblicks oft gegen eine kontrollierte Darstellung des Ganzen rebelliert, ist eine in die Kunst ausgelagerte ertrotzte Freiheit des Sinnlichen. Doch Kaufmann, der früh Einblick in die psychischen Katastrophen von Horowitz' Existenz erhält, entschließt sich bald, die Last eines ungelebten Lebens abzuwerfen und sich selbst nicht mehr zu verleugnen. Wenn man die im Internet zu lesenden Berichte kennt, muss er ein großzügiger und glücklicher Mensch gewesen sein.
Doch wenn man - was Singer zitiert - im "Spiegel" von 1982 Horowitz' "Bonmot in eigener Sache" liest: "Es gibt nur jüdische, schwule und schlechte Pianisten" und dann den Nachsatz des Journalisten: "Horowitz ist weder schwul noch schlecht", dann kommt einem dieser alte Ton der Amüsiertheit zusammen mit der Süffisanz in der Schilderung von Horowitz' Extravaganzen nach der Lektüre dieses so ganz anderen Romans erst recht beklemmend vor.
JAN BRACHMANN
Lea Singer: "Der Klavierschüler". Roman.
Kampa Verlag, Zürich 2019. 224 S., geb.
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