Besprechung vom 04.10.2023
Zwischen Kirche, Krieg und Kommunismus
Drago Jancar erzählt in seinem Roman "Als die Welt entstand" vom Slowenien der Nachkriegszeit
Wörtlich oder metaphorisch, der voyeuristische Blick durch den Türspalt kann mit Fug und Recht als Anfangspunkt für jede zünftige Coming-of-Age-Geschichte gelten. Durch ihn sieht Danijel, ein Kind der jugoslawischen Sechzigerjahre, erst die sinnliche Lena; einige Abschiede, Träume und Provinz-Melodramen später aber nur noch eine ungepflegte und eifersüchtige, gealterte Frau. Am Anfang und am Ende ist das Nichts: ohne den saufenden und prügelnden Partisanen-Vater (fast hätte er Hitler erschossen!), den strengen Kapuzinermönch, ohne die blonde Jugendliebe Vasilka und seinen fußballspielenden Bruder fragt sich der gealterte Danijel, zu wem er gehört. Drago Jancar erzählt eine Kindheitsgeschichte von Verfall, dem nie überwundenen Krieg und einer metaphysischen Ungewissheit. Sie spielt in Jancars Geburtsstadt Maribor wie das Gros seines Werkes - und liefert noch ein ganzes Konvolut an Statements zur slowenischen Geschichte mit.
Mit Koffern in den Händen zieht eine neue Nachbarin vom Land in Danijels Straße. Der ist beeindruckt von der etwas älteren Lena, ihrer Unschuld und ihren Unterkleidern. Etwas eifersüchtig ist er zunächst, als der tumbe Pepi mit ihr zusammenkommt, aber als sein gewalttätiger Nebenbuhler Ljubo auf den Plan tritt, ist es für den Jungen klar, auf wessen Seite er steht. Nach und nach geht alles in die Brüche. Sein Vater wird krank und muss ins Heim, seine Jugendliebe Vasilka zieht zu ihrem Vater ins verloren gegangene Triest, Pepi und Ljubo werden umgebracht. Es ist alles eitel.
Hinter dieser Handlungsfassade zeichnet Jancar das psychologische Porträt eines orientierungslosen Teenagers, der mit großen Augen durch die slowenische Nachkriegsgesellschaft stolpert. Anders als in seinen Romanen "Wenn die Liebe ruht" und "Die Nacht, als ich sie sah" ist die deutsche Besetzung nun überwunden. Maribor ist in einer schwermütigen jugoslawischen Heimeligkeit angekommen, nun sind "die Fenster verglast, die Möbel neu, im Keller gab es Kohle, dort befanden sich in einem Verschlag auch ein Haufen Kartoffeln und ein Fass Sauerkraut". Klarer geworden ist aber nichts. Allenthalben wird Danijel von Dogmen beschallt und muss feststellen: Nichts davon ist stimmig, alles erodiert am Ende, sowohl Kirche als auch Kommunismus. Jancars Figuren sind eigentlich keine, sie sind Archetypen. Das zeigt das Anliegen des Autors: Obwohl der autobiographische Geschmack nie ganz schwindet, ist das hier kein Fallbeispiel, sondern eine Parabel auf die slowenische Gesellschaft im jugoslawischen Kommunismus. Ach, übrigens: Wir befinden uns laut Roman in der Stadt M. im Gouvernement S., nicht im slowenischen Maribor.
Immer wieder kommentiert der ältere Danijel rückblickend die Erlebnisse in seiner Kindheit, bleibt aber so zurückhaltend, dass der schicksalhafte Verlauf keine altersschlaue Sinngebung erhält. Nicht frei von Pathos und Stereotyp ist indes das Ende. Auf der letzten Seite kommt aus dem Nichts ein Icherzähler, der den zukunftsängstlichen Danijel beruhigt ("Als ich das niederschreibe, fürchte ich mich schon etwas weniger. Denn es steht geschrieben, ist Wort geworden"). Jancar meistert das Erzählen, und so driftet ihm die Geschichte nicht ins Profane, ins Kriminalistische ab; immer wieder streut er biblische Anspielungen ein, und die im Laufe des Dramas immer wirrer werdenden Träume zeigen sich - klassisch phantastisch - erst beim Erwachen als das, was sie sind. Die Nebenhandlungen sind so herrlich anekdotisch und lapidar, dass sich neben der Geschichte geschickt eine Soziologie der jugoslawischen Provinz entwickelt. Unermüdlich erzählt Danijels Vater die gleichen Geschichten aus dem Krieg, von Gulasch, den Deutschen und Marschall Tito. Dem hat er selbstverständlich einen Bittbrief geschrieben, als die Miliz ihm seine Waffe abnahm, denn "er versteht, wie es ist, wenn einem die Waffe weggenommen wird" - hätte er mal nicht betrunken im Streit auf seinen Kameraden geschossen. Und die Deutschen, die sind in "nachbarschaftlicher Kälte" auch da. Noch.
Großartig gelingt Jancars nuancierte Motivik. Ob gerade Frühling oder Herbst ist, passt immer zum derzeitigen Schicksalsstand, bei einer Prügelei hat der Gegner erst metaphorischen, dann tatsächlichen Schaum vor dem Mund, und die Blumen von Danijels Wahlgroßvater Fabjan blühen weiter, obwohl die Miliz bei ihm zu Besuch war. Im Jahr, in dem Slowenien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist, gewährt Jancar einen melancholischen Blick in die slowenische Geschichte. LUCA VAZGEC
Drago Jancar: "Als die Welt entstand". Roman.
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Zsolnay Verlag, Wien 2023. 271 S., geb.
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