Besprechung vom 20.02.2021
Ein Traum in Nullachtfünfzehn
Futurlandschaft mit schlechtem Ruf: Florian Werner hat sich auf einer Raststätte einquartiert und umgeschaut. Seine Eindrücke widerlegen das Vorurteil vom öden Ort am Rand der Autobahn.
Wer sich über unsere ökologische Zukunft informieren will, kann Fachliteratur konsultieren oder das Internet befragen. Weniger naheliegend, dafür aber umso anschaulicher ist es, eine Raststätte aufzusuchen. Als gutes Feldforschungsterrain erweist sich Garbsen Nord an der A2 bei Hannover. Zweihundertsechzig Pflanzenarten wachsen in fünf Biotoptypen auf dem Gelände der 1954 eröffneten Anlage, darunter etwa der Mäuseschwanz-Federschwingel und das Gewöhnliche Hirtentäschelkraut. Inzwischen gedeihen ein Drittel mehr Spezies auf dem Rasthof als vor vierzig Jahren, wobei sich deren Zusammensetzung immer wieder ändert. Der Klimawandel macht es wärmeliebenden Gewächsen leicht, sich auszubreiten, während alles, was viel Feuchtigkeit braucht, kaum Überlebenschancen hat.
Jürgen Feder, Diplom-Ingenieur für Landespflege, Flora und Vegetationskunde, sagt: "Unsere Kulturgräser werden alle eingehen. Dann kriegen wir ein Grünland wie auf Mallorca. Mit unserer Massentierhaltung ist es dann zu Ende." So wie auf Rastplätzen, die sich wegen des stark versiegelten Bodens besonders stark aufheizen, könnte es in zwanzig bis dreißig Jahren überall in Deutschland aussehen. Insofern handelt es sich bei ihnen um "Futurlandschaften".
Feder gehört zu einer Handvoll Menschen, mit denen sich Florian Werner für sein Buch über Raststätten getroffen hat. Ob Polizist, Flaschensammler oder Trucker: Jeder von ihnen hat einen anderen Zugang zu diesen seltsamen, oft schlecht beleumundeten Orten, die meistens nur von der Autobahn aus erreichbar sind, als Durchgangsstation dienen und uns an eine einfache Wahrheit erinnern, die für viele Reisen gilt: "Das Ziel ist das Ziel. Der Weg ist im Weg." Da sich kein Trip ohne "Naturhindernisse" (Karl Marx) wie Harndrang oder Hunger bewältigen lässt, machen hierzulande jedes Jahr mehr als eine halbe Milliarde Menschen halt an den rund vierhundertdreißig bewirtschafteten Raststätten.
Garbsen Nord ist Werner zufolge ein Ort von "hinreißender Durchschnittlichkeit, ein Traum in Nullachtfünfzehn, asphaltgewordene Normalität" - und deshalb ideal, um manches über Kultur und Mentalität der Deutschen zu lernen. Der Autor checkt im Motel des Rasthofs ein, staunt über einen Münzfernsprecher der Telekom (Einwurf: fünfzehn Cent), betrachtet die im Fischgrätmuster aufgereihten Vierzigtonner auf dem Parkplatz und fragt sich, warum die Schilder so anachronistisch sind: Das Piktogramm für Lastwagen etwa zeigt ein Modell mit Plane und Pritsche. Der Besuch der Sanifair-Toilette - nichts zu beanstanden, alles "picobello" - animiert ihn zu philosophisch unauffälligen Überlegungen. So erhält der Notdürftige vorm Betreten der sanitären Anlage einen Wertbon, den er im Gastronomiebereich einlösen kann. Das komme einem "konsumistischen Teufelskreis" gleich: "Er hat sich noch nicht entleert und soll sich schon wieder auffüllen."
Ebenso kritisch, aber auf Blödelniveau äußern sich die Gebrüder Blattschuss in ihrem 1982 veröffentlichten Comedy-Song "Es gibt Gaststätten, die nie 'nen Gast hätten, es sei denn, sie sind Autobahnraststätten": "Das Essen kam schon nach eineinhalb Stunden, / Dementsprechend war es auch kalt, / Im Rheinwein war mehr Rhein als Wein, / Der Seniorenteller war schon ziemlich alt." Im Gästebuch von Garbsen Nord herrscht dagegen strikte Lakonie. "Immer wieder schön. Dank für die Gastlichkeit", vermerkte Herbert Wehner im November 1974. Fünf Jahre darauf dichtete Uwe Seeler: "Im Falle solchen Falles, heißt's: Dankeschön für alles!" Alfred Biolek war im August 1980 voll des Lobes: "Die Raststätte mit den besten Süßspeisen!! Vielen Dank - ich liebe Süßes!" Einige Monate später legte er nach: "Danke für den guten Pudding!"
Derartige Trouvaillen stehen gleichberechtigt neben Kapiteln, die im manchmal aufdringlichen Stil literarisierter Reportagen geschrieben sind, und unnötigen Ausflügen in die Kulturwissenschaft, genauer: zu Michel Foucault oder Marc Augé. Aufschlussreicher sind die historisch-politischen Abschnitte.
Die erste deutsche Rastanlage entstand Mitte der 1930er Jahre, befand sich am Chiemsee und lag zwischen München und Hitlers Domizil am Obersalzberg. Nach der Machtergreifung konnte es den Nationalsozialisten nämlich gar nicht schnell genug gehen: Schon im Februar 1933 ließ Adolf Hitler verlauten, er werde unverzüglich ein umfassendes Streckensystem für Kraftfahrzeuge einrichten. Drei Jahre später wurde der tausendste Autobahnkilometer der Öffentlichkeit übergeben. Fritz Todt, Ingenieur und Generalinspektor für das Straßenwesen, verantwortete den Bau der Reichsautobahn und ihrer Versorgungsbetriebe. Sie sollten "Werke der Kultur" sein und sich durch eine "neuzeitliche architektonische Durchbildung der Einzelteile" auszeichnen. Nachdem die Regierung von 1942 an keine weiteren Autobahnen mehr baute, nutzte sie die achtundzwanzig existierenden Rasthöfe unter anderem als Lazarette.
Sechs Jahre nach Kriegsende wurde die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen gegründet. Sie erhielt ein Startkapital in Höhe von fünfzigtausend D-Mark, wobei man ihr auferlegte, mit diesem Betrag ohne weitere staatliche Unterstützung zu wirtschaften. Laut Werner dürfte das "den Zustand der westdeutschen Raststätten in den Achtzigerjahren erklären". Um die Anlagen der DDR kümmerte sich von 1961 an die Mitropa AG. Vier Jahre nach der Wiedervereinigung kaufte die in eine Aktiengesellschaft umgewandelte einstige Gesellschaft für Nebenbetriebe alle Einrichtungen der Mitropa an ostdeutschen Autobahnen. Der Name des neuen, seit 1998 privatisierten Eigners: Tank & Rast.
Mittlerweile verpachtet der Konzern rund fünfundneunzig Prozent der deutschen Raststätten. Er gehört einem Konsortium, das unter anderem aus einem Tochterunternehmen der Allianz-Versicherung, einem kanadischen Pensionsfonds und dem Staatsfonds von Abu Dhabi besteht. Dennoch wird die Infrastruktur der Anlagen von der öffentlichen Hand mitfinanziert. Zwar steht dem Bund pro hundert Liter Treibstoff, die Autofahrer an deutschen Rasthöfen tanken, eine Konzessionsabgabe von bis zu 1,53 Euro zu. Tatsächlich aber streicht er nur dreiundzwanzig Cent pro hundert Liter ein. Solche politisch heiklen Aspekte dürften vielen ebenso unbekannt sein wie die Flora, welche sich auf deutschen Rastanlagen angesiedelt hat. Eine nähere Betrachtung verdienen beide.
KAI SPANKE
Florian Werner:
"Die Raststätte".
Eine Liebeserklärung.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin 2021. 192 S., Abb., geb.
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