Besprechung vom 18.12.2018
Wie man gegen die Schwerkraft regiert
Frank Sieren und Kai Strittmatter, zwei Kenner des Reiches der Mitte, liefern mit ihren Büchern erstaunlich unterschiedliche Zustandsbeschreibungen. Eines von beiden lohnt die Lektüre.
Zur Abwechslung von all den Destruktionsszenarien, von denen man im elysiumähnlichen Deutschland umgeben ist, bietet China das schaurig-schöne Bild eines konstruktiven Brutalismus. Das Land wird reicher, mächtiger und selbstbewusster. Es schafft sich in Asien und Afrika eine riesige Interessensphäre und erweitert seinen Einfluss bis nach Osteuropa, Lateinamerika und Australien. In mehreren Technologiebereichen greift es nach globaler Führerschaft. Nordamerikanischem Druck scheint es zu trotzen, liberale Werte erklärt es ungerührt für irrelevant.
Obwohl er China als Korrespondent seit langer Zeit beobachtet, weiß Frank Sieren nicht so recht, was er von alldem halten soll. Sein Buch, in dem er, leider ohne einen einzigen Quellenbeleg, die medienbekannten Erfolgsmeldungen über Chinas Aufstieg noch einmal zusammenstellt, ist so wirr und widersprüchlich, dass man dem Autor (und seinen Lesern) auf dem Eilmarsch zur Druckerpresse eine Denkpause gewünscht hätte. Unterm Strich zeigt sich Sieren aber doch eher beeindruckt als skeptisch. In einer Gesellschaft von 1, 4 Milliarden Menschen fehlt es nicht an Problemen. Doch keine Sorge: "Peking ist sich all dieser Herausforderungen bewusst. Und geht sie mit einer Entschlossenheit und Konsequenz an, wie das nur in einem so autoritär ausgerichteten System möglich ist."
Alles ruhe in der festen Hand des Staatspräsidenten Xi Jinping, der die Kunst beherrsche, "kontrolliert Druck aus dem Kessel abzulassen", und, wie angeblich die Chinesen überhaupt, "hundert Jahre im Voraus" plane. Manche "rechtlosen Schleifspuren" von Xis resolutem Tun mögen, wie Sieren einräumt, zartbesaiteten Westlern Unbehagen bereiten. Selbstverständlich hat er nichts gegen "westliche Werte". Aber sie sind für ihn offenbar ein sentimentales Privatvergnügen.
Mit welchem Recht, fragt er im Ton eines demographisch quantifizierten Kulturrelativismus, kann eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung (zu der nicht einmal der amerikanische Präsident und seine dreiundsechzig Millionen Wähler gehören) der Mehrheit ihre eigenen Vorstellungen als universal gültig aufdrängen? Wo immer der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas auftritt, hat er die Legitimation der 1,4 Milliarden hinter sich. Dass sie ihn nicht gewählt haben, stört den chinabewegten Sieren nicht. Die verfolgten Menschenrechtsanwälte sind selber schuld. "Kaum jemand in China sehnt sich nach einem Umsturz."
Die Fassungslosigkeit, die Frank Sieren suggeriert, ist die über "unsere" - deutsche, europäische, westliche - Blindheit angesichts der blanken Tatsache, dass "wir" uns an China anpassen müssen, ob man es nun als "Gefahr" oder als "Chance" - da legt sich Sieren nicht fest - begreift. Neben einen solchen Schicksalsopportunismus stellt Kai Strittmatters Buch eine andere Art von Fassungslosigkeit: das blanke Entsetzen darüber, was in China selbst geschieht. Der langjährige Pekinger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" verlässt sich nicht auf seinen reichen Schatz an Impressionen und begnügt sich nicht mit einem forsch hingeworfenen Meinungsbeitrag in Buchlänge. Gründliche Quellenrecherchen machen seine prägnanten Schlussfolgerungen umso eindringlicher.
Auch Strittmatter beobachtet nicht aus interesseloser Distanz, wie im Zeitraffer eine Supermacht entsteht. Auch er fragt danach, was die Entwicklung Chinas für uns bedeutet. Aber er sorgt sich nicht vorrangig um den Absatzmarkt der deutschen Autoindustrie oder um parasitäre Technologieabschöpfung. Eines seiner Kapitel warnt vor der besonderen Art von aggressiver Soft Power, mit der die Volksrepublik in aller Welt Meinungsführer für sich gewinnt und Kritiker kaltstellt. Wer in Konfuzius-Instituten die harmlosen Verwandten der in der Tat liebenswerten Goethe-Institute vermutet, täuscht sich.
Viel beunruhigender jedoch sind die digitalen Überwachungsnetze, mit denen das Regime das ganze Land überzieht. Weder durch das Recht und eine unabhängige Justiz noch durch einen moralischen Respekt vor der Restwürde des Individuums daran gehindert, setzt der Staat Überwachungskameras, elektronische Bezahlsysteme, eine zunehmend digitalisierte Verwaltung und eine höchst erfolgreiche Internetzensur ein, um Fügsamkeit und Konformität zu erreichen.
Was Mao Tse-tung noch mit massenhafter Gewalt erzwingen musste, besorgen mehr und mehr die Smartphones, die bereits in die entlegensten Dörfer vorgedrungen sind. Die berüchtigte "Gehirnwäsche" der Mao-Zeit ist nicht mehr nötig, sobald digitale Datenakkumulation und eine technisch versierte Propaganda die Köpfe subtiler zu steuern vermögen und digitale Sündenregister, derzeit noch in regionaler Piloterprobung, die gesamte Bevölkerung disziplinieren.
An den Grenzen solcher Subtilität kümmern sich die bewährten Zwangsorgane um die Widerspenstigen und Unbelehrbaren. Auch nachdem die Staatssicherheit nicht länger in Papierbergen und Abhörbändern erstickt, bleibt die physisch zugreifende Polizei unentbehrlich. Die Übergänge sind elastisch. Wer bei der elektronischen Gesichtserkennung unangenehm auffällt, kann von Auslandsreisen ausgeschlossen werden, aber auch im Gefängnis oder Straflager landen. 99,9 Prozent aller Gerichtsverfahren enden mit der Verurteilung der Angeklagten. Revision unmöglich.
Kai Strittmatter ist kein Voyeur ausgefeilter Techno-Grausamkeiten. Hinter seiner Beschreibung einer Kombination von Psychomanipulation und Konsumchloroformierung - George Orwell und Aldous Huxley dystopisch vereint - verbirgt sich das Bild einer Gesellschaft ohne Grundvertrauen, moralische Selbstverständlichkeiten und halbwegs verlässliche Sicherheiten. Aus der Vergangenheit kann sie nichts lernen, da der Horror der großen Hungersnot um 1960 und der Kulturrevolution systematisch beschwiegen wird. Auch die Volksproteste von 1989 und ihre Unterdrückung fallen dem gewollten Vergessen anheim. Trotz allem: Strittmatter prophezeit keinen Kollaps der Parteidiktatur und keine soziale Implosion. Die KPCh hat es gelernt, wie er formuliert, "gegen die Schwerkraft" zu regieren, prosaischer: gegen die Liberalisierungserwartungen der westlichen Sozialwissenschaft.
Xi Jinping und sein Apparat sind dabei, "den perfektesten Überwachungsstaat aufzubauen, den die Welt je gesehen hat". Pech für die Chinesen. Das wäre indes zu kurz gedacht. Es ist nämlich nicht viel unausweichlich Chinesisches an dieser Brave New World; Strittmatter nennt als Gegenprobe immer wieder das zivilisiert-demokratische Taiwan. Und sie bedarf auch keiner angestrengten ideologischen Untermauerung wie in den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts; vermutlich nimmt nicht einmal sein Urheber das neuerdings kanonisierte "Xi Jinping-Denken" ernst. China ist potentiell überall. Künstliche Intelligenz muss nur in die Hände einer hemmungslosen natürlichen Intelligenz fallen. Das ist der dunkelste Abgrund, in den Kai Strittmatter uns blicken lässt. Deshalb sollten sich auch diejenigen für dieses Buch interessieren, denen China sonst egal ist.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Frank Sieren: "Zukunft? China!" Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert.
Penguin Verlag,
München 2018.
365 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Kai Strittmatter: "Die Neuerfindung der Diktatur". Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert.
Piper Verlag, München 2018. 288 S., geb.
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