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Besprechung vom 27.11.2021
Geschichten am Strom
Von den Quellen bis zur Mündung: Zwei Bücher gehen dem Rhein auf den Grund und finden viel mehr als Romantik.
Von Ursula Scheer
Diesen Strom, wer wollte ihn fassen? Von den Alpen bis in die Nordsee zieht er seit Urzeiten in immer neuen Gestalten seine Bahnen und formt die Landschaft wie die Menschen an den Ufern. Naturgewalt und Kulturträger, Lebensader und Grenzfluss, Wasserstraße und romantischer Mythos: Der Rhein lässt sich nicht festlegen, jedes seiner Hochwasser - oder nun häufigeren Niedrigwasser - spottet der Form, die ihm seit der Industrialisierung aufgezwungen wurde. Versteinerte Muscheln auf von ihm geteilten Höhen lassen wissen: Wo Land ist, kann Wasser werden und umgekehrt. Alles fließt. Der von Römerstädten und Burgruinen gesäumte Fluss selbst ist die Konstante, immer gleich, immer anders - und hört als Vielbesungener, Oftbeschriebener nicht auf, mitzureißen oder in seinen Bann zu schlagen. Dazu braucht er keine Loreley.
Nicht weit entfernt von der engsten Stelle des schiffbaren Rheins, wo Clemens Brentano und Heinrich Heine auf einem steil zum nassen Gewirbel abfallenden Felsvorsprung die berüchtigte Holde mit dem Kamm im Haar platzierten, ist Hans Jürgen Balmes geboren: in Koblenz, am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. So umarmt von Fließgewässern ist er ein echter Anrainer, der sich eine fast megalomanische Aufgabe gestellt hat. "Die Biographie eines Flusses" lautet der Untertitel seines umfangreichen Bandes "Der Rhein". Er ist vieles zugleich - naturkundliche Reportage, historische Erzählung, persönlicher Reisebericht -, im Grunde aber ein langer Liebesbrief des Autors an den Fluss seines Lebens. Angesichts der 1036,20 rheinischen Stromkilometer allein von Konstanz bis Hoek van Holland könnte das kongenial sein. Wo auch haltmachen bei dem gewaltigen Geschiebe, dass dieser Strom mit sich führt?
Balmes, Lektor und Übersetzer, hat den Rheinlauf erwandert, bereist oder im Faltboot befahren. Grundlage seiner Flussbiographie ist kein systematisches Erkunden, sondern ein Erleben, in dem sich Vergangenes und Gegenwärtiges mischen. Aus der Mitte entspringt ein Fluss: Balmes beginnt auf halber Strecke, am "Binger Loch", wo der Oberrhein sich verengt und ins Mittelrheintal presst, hinweg über ein quer liegendes Riff, in das erst vor nicht allzu langer Zeit eine immer größere Lücke gesprengt wurde - mit weitreichenden Folgen. Aus der Naturbetrachtung entfaltet Balmes die Geschichte der Schiffbarmachung und gräbt sogleich den Brunnen der Vergangenheit, bis es nicht mehr tiefer geht: Absinkendes Gelände in dieser Gegend hat vor Jahrmillionen zur Bildung des Ur-Rheins geführt, der durch Rückwärtserosion seinen heutigen Quellen entgegenwuchs. Ein Abstecher zur Grube Messel gerät zur Zeitreise an die Ursprünge. Das anschließende, am alpinen Hinterrhein verortete Kapitel wird zur doppelten Quellensuche: Schalen im Fels offenbaren die räumliche wie zeitliche Selbstverortung der Steinzeitmenschen. Am Rheinfall von Schaffhausen tritt William Turner ins Bild, der die stürzenden Wassermassen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts festhielt und auf seinen Rheinreisen die wohl schönsten Aquarellansichten des Mittelrheins schuf. Balmes folgt ihm Hunderte Kilometer stromabwärts und ist nach einem Drittel seines Buches zurück am Ausgangspunkt. Ein erster Kreis geschlossen, gelegt aus einander überlagernden Zeitebenen.
Dieses assoziative Ausgreifen lässt die Vieldimensionalität des Flusses als Natur- und Kulturraum aufscheinen: Balmes führt Eiszeitmenschen und Regenpfeifer zusammen, berichtet von der Sandoz-Katastrophe und den Schicksalen am Ende des Zweiten Weltkriegs, weiß von Vulkanen, Preußen, Römern, Schleppschiffern, Winzern und Dichtern, steigt in Speyers mittelalterliche Mikwe hinab und klettert auf die Düne im Mündungsgebiet mit Blick aufs Meer. Zuweilen verliert der Autor sich in seinen literarisch stilisierten, melancholisch angehauchten Naherfahrungen, von denen aus er weite Erzählbögen spannen will. Er ist nicht Dieter Kühn. Ein mutigeres Lektorat hätte den einen oder anderen Durchstich nach dem Vorbild des Rheinbegradigers Tulla gewagt, um Schleifen abzuschneiden. Die narrative Fließgeschwindigkeit ist die in einer Aue. Für alle, die den Rhein kennen, lässt sich hier beim Eintauchen gleichwohl viel Neues entdecken; für jene, die ihn bereisen wollen, ist die Fülle der Inspirationen enorm.
Gleiches gilt für Karl-Heinz Götterts "Der Rhein. Eine literarische Reise". Göttert, ein weiterer gebürtiger Koblenzer, der als inzwischen emeritierter Germanistik-Professor der Kölner Universität nicht vom Fluss weggekommen ist, hat nur auf den ersten Blick eine topographisch sauber gegliederte Literaturgeschichte verfasst: vom Alpenrhein über den Oberrhein an den Mittelrhein zum Niederrhein ins Delta. Quasi im Vorbeifahren an Städten erzählt der Autor, was sich schriftstellerisch dort zugetragen hat.
Zeit und Raum bei einem so liquiden Gegenstand jedoch sind nicht über eins zu bringen: Martin Walser, Annette von Droste-Hülshoff und Oswald von Wolkenstein sind mit dem Bodensee verbunden, Erasmus von Rotterdam war in Basel und Straßburg, die Rheinromantik blühte, die "Wacht am Rhein" donnerte an vielen Orten. Und dann sind da noch die unvermeidlichen Nibelungen (Speyer, Worms, Königswinter, Xanten) und die Erfolgsstory mit der Loreley. Was Göttert im Vorwort als Schwierigkeit beschreibt, ist ein Glück: Statt akademisch wirkt sein Buch zugänglich, ein Schmöker, den man an beliebiger Stelle aufschlagen kann.
Die Kapitel des Bands tragen Ortsnamen. Nehmen wir statt literarischer Hotspots wie Mainz mit Umland (Gutenberg, Carl Zuckmayer, Anna Seghers) und Köln (Albertus Magnus, Petrarca, Friedrich Schlegel, Heinrich Böll und so fort) eine Stadt wie Moers. Von dort stammte der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch und sagte: "Alles, was ich bin, ist niederrheinisch." Um zu ergänzen: "Niederrhein ist für mich wirklich keine Landschaft, für mich ist das eine verschleppte Erkältung." So etwas darf man nur äußern, wenn man von dort kommt: "Sag ma nix."
An einem Ort wie Winkel im Rheingau ist die Tonlage eine andere: Hier nahm sich Karoline von Günderrode das Leben, was Christa Wolff in "Kein Ort. Nirgends" literarisierte, und schrieb Bettina Brentano, das in Goethe verschossene Kind, an den Dichterfürsten - ein Anlass, das Brentano-Haus in Oestrich-Winkel zu besuchen oder im nahen Eltville dem Schaumwein zuzusprechen, dem Thomas Manns Hochstapler Felix Krull entstiegen ist. Göttert referiert pointiert und zitiert sparsam. Sein Buch führt eher zu anderen Büchern als an den Flusslauf, den er als Durchzugsgebiet der Dichter, Ideen und Ideologien, als Resonanzraum der Sprachen, Dialekte und Schriften umreißt, deutsch und europäisch zugleich. Was angesichts der unermesslichen Fülle des Materials besticht, ist Götterts Mut zur Lücke.
Hans Jürgen Balmes: "Der Rhein". Biographie eines Flusses.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 560 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Karl-Heinz Göttert: "Der Rhein". Eine literarische Reise.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 349 S., Abb., geb.
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