In der »Nacht der langen Messer« vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 wurden auf Befehl Adolf Hitlers rund 100 Menschen ermordet: Konkurrenten und Widersacher des Nazi-Regimes, unliebsame Zeugen des holprigen Aufstiegs Hitlers, Personen, die man schon lange loswerden wollte: Der sogenannte »Röhm-Putsch« ist die erste staatliche Mordaktion des »III. Reichs«.
Bereits im Herbst 1934 erscheint die Schrift »Hitler rast« eines gewissen Klaus Bredow. Ungeheuer informiert und klarsichtig beschreibt er den Aufstieg Hitlers und der Nazis in engstem Schulterschluss mit Ernst Röhm und der SA, erste Entfremdungen und schließlich den Ablauf der Mordaktionen. »Bredow« ist das Pseudonym für Konrad Heiden, einen der bedeutendsten und erfolgreichsten Publizisten der 20er und 30er Jahre. Ein faszinierender Zeitzeugenbericht, der 90 Jahre verschollen war!
Besprechung vom 28.06.2024
Der Kanzler begleicht Rechnungen
"Röhm-Putsch" vor neunzig Jahren: Eine Broschüre des ersten Hitler-Biographen Konrad Heiden in einer neuen kommentierten Ausgabe
Am Freitag, dem 6. Juli 1934 freute sich Thomas Mann in seinem Schweizer Exil über "strahlendes Sommerwetter" und einen "Waldspaziergang" allein. Als er nach dem Mittagessen die Zeitung las, sind die dramatischen Geschehnisse im Deutschen Reich das Hauptthema. Am Wochenende zuvor, hatte Reichskanzler Hitler einen "Putschversuch" niedergeschlagen, an dessen Spitze SA-Chef Ernst Röhm und der ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher gestanden haben sollen. Beide sind ohne Prozess hingerichtet worden. Auch im Berliner Regierungsviertel waren Schüsse gefallen. Innerhalb von drei Tagen wurden mehr als neunzig "Mitverschwörer" erschossen und Hunderte inhaftiert. Doch an das angebliche "Komplott glaubt niemand in der Welt", hielt Mann in seinem Tagebuch fest, es handle sich wohl vielmehr um einen "Verbrecherschwindel".
In der Berner Tageszeitung "Der Bund" las der Schriftsteller auch von einem Wutanfall Hitlers, der am 30. Juni eigens an den Urlaubsort Röhms ins oberbayerische Bad Wiessee geeilt war, um seinen Duzfreund im Morgengrauen zu verhaften, wobei "er einen Stuhl in der Hand gehabt und alles Erreichbare zerschlagen habe". Auf den hysterischen Reichskanzler spielte auch der Titel einer Broschüre an, die wenige Wochen nach den blutigen Ereignissen erschien. Die im Saargebiet - damals als Mandat des Völkerbundes noch nicht Teil des Deutschen Reiches - erschienene Schrift "Hitler rast" informierte auf 74 Seiten über "Ablauf, Vorgeschichte und Hintergründe" der "Bluttragödie des 30. Juni 1934" und war mit mehr als 10.000 verkauften Exemplaren ein zeitgenössischer Bestseller. Danach aber verschwand sie aus dem öffentlichen Bewusstsein und spielte auch in der historischen Forschung zum sogenannten "Röhm-Putsch" keine Rolle.
Neunzig Jahre nach ihrem Ersterscheinen wird die vergessene Publikation auf Initiative des Historikers und Journalisten Sven Felix Kellerhoff sowie des Lektors Daniel Zimmermann nun wieder aufgelegt. Kellerhoff, selbst Autor einer Neuerscheinung zum "Röhm-Putsch", hat eine akribische Kommentierung des Textes vorgenommen und ein sachkundiges Nachwort verfasst. Darin klärt er über die Identität des Verfassers der Broschüre auf, der seinen auch heute noch gut lesbaren Text seinerzeit unter dem Pseudonym "Klaus Bredow" veröffentlichte. Dahinter verbarg sich der langjährige Journalist der "Frankfurter Zeitung" und erste Hitler-Biograph Konrad Heiden.
Heiden war im Frühjahr 1933 aus dem Reich geflüchtet und arbeitete zum Zeitpunkt des Erscheinens von "Hitler rast" unter anderem für die in Saarbrücken erscheinende Zeitung "Deutsche Freiheit". Mit dem Pseudonym "Klaus Bredow" spielte Heiden möglicherweise auf eines der bekanntesten Mordopfer des Massenmords vom 30. Juni 1934 an: den fünfzigjährigen Generalmajor a. D. Ferdinand von Bredow, einen engen Vertrauten Kurt von Schleichers, den Hitler in einer Rechtfertigungsrede vor dem eilig einberufenen Reichstag am 13. Juli 1934 als "eine Art außenpolitischer Agent des Generals" diffamierte.
Insbesondere auf Grundlage der Details dieser Rede des "Mordkanzlers", wie Heiden Hitler in seiner Broschüre nennt, und unter Heranziehung anderer Verlautbarungen des Regimes zum geplanten Ablauf des vermeintlichen Putschversuchs legt Heiden zahlreiche Widersprüche offen, die gegen die offizielle Lesart vom in letzter Minute abgewendeten Staatsstreich der SA-Führung und ihrer konservativ-katholischen Verbündeten sprechen. Vielmehr ging Heiden davon aus, dass es sich um eine Racheaktion handelte, mit der nicht nur ehemalige Gegner, sondern auch potentielle Konkurrenten um Macht und Einfluss ausgeschaltet werden sollten. Zugleich hätte man die Gelegenheit genutzt, um "Mitwisser gefährlicher Geheimnisse", etwa zur Finanzierung der NSDAP und zu den Hintergründen des Reichstagsbrandes, zu beseitigen.
Heiden beschreibt die "ganze Bestialität der Vorgänge", indem er im Detail einige der Morde aus den ihm damals zur Verfügung stehenden Quellen, darunter vor allem Zeitungsberichte, schildert. Darüber hinaus geht er aber auch ausführlich auf die Vorgeschichte der "Freundschaft" von Hitler und Röhm seit dem Jahr 1919 ein. Zugleich berichtet er von den Auseinandersetzungen innerhalb des NS-Machtapparats um eine von der SA geforderte "zweite Revolution", mit der die "Machtergreifung" vom 30. Januar 1933 vollendet werden sollte, von den wachsenden Spannungen zwischen Hitler und seinem Vizekanzler Franz von Papen sowie vom sich zuspitzenden Konflikt zwischen der Reichswehr und der SA, um die Rolle der bewaffneten Macht im Staat. Heiden, der Deutschlands einzige Zukunft im Sozialismus sah, erwähnt auch die wirtschaftliche Krise, in der sich das Regime nur ein Jahr nach seinem Machtantritt befand: "Es fehlt an Geld, es fehlt an Devisen, es fehlt an Wolle, es fehlt an Fett, es fehlt an Kartoffeln [...] unaufhaltsam steigen die Preise [...] niemand glaubt mehr an die Zahlen über den angeblichen Rückgang der Arbeitslosigkeit [...] der Enthusiasmus des vorigen Sommers ist einer tiefen Mißstimmung gewichen."
Der neunzig Jahre alte Text Heidens ist auch für den heutigen Leser ein beeindruckendes Zeitdokument, hat der Autor doch frühzeitig den Zäsurcharakter der als Niederschlagung einer "Meuterei" getarnten Mordaktion vom Sommer 1934 erkannt und schon damals einen geradezu prophetischen Blick in die Zukunft des Hitler-Regimes geworfen, wenn er in seinem "Ausblick" schreibt: "Das System ist an einer entscheidenden Stelle zerbrochen. Es beruhte den eigenen Anhängern gegenüber bisher auf der Massensuggestion. Jetzt muss es übergehen zum Massenmord." RENÉ SCHLOTT
Konrad Heiden:
"Hitler rast".
Hrsg. von Sven Kellerhoff.
Herder Verlag, Freiburg 2024.
160 S., geb.
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