Besprechung vom 23.11.2019
Möchten Sie gern mit dieser Frau Weihnachten feiern?
Wir würden dazu raten, sofern die Vermieter nichts gegen Krach und krude Gäste haben: Der Kurzgeschichtenband "Abend im Paradies" bestätigt Lucia Berlins Meisterschaft.
Von Jan Wiele
In einer Anthologie der krummen Weihnachtsgeschichten müsste Lucia Berlin ganz vorne stehen. Gleich zwei finden sich im vorliegenden Band. In der einen wird am Ende ein alter Schäfer, der nichts mit dem vorherigen Geschehen zu tun hatte, von einer vom Himmel fallenden Schinkenlieferung erschlagen, in der anderen bricht bei einer Schulweihnachtsfeier Streit unter Erwachsenen um die Geschenke aus, die eigentlich für die Kinder gedacht waren.
Die schlichten Titel, "Noël. Texas. 1956" und "Noël, 1974", deuten einerseits etwas Realistisches, Tagebuchhaftes an; durch das französische Wort für Weihnachten erzeugen sie bei einer amerikanischen Autorin aber auch die Erwartung einer festlich exquisiten Handlung, die bei der Lektüre ironisch gebrochen wird.
Die texanische Weihnachtsgeschichte wird erzählt von einer Frau, die vor ihrer Familie aufs Dach geflüchtet ist und nicht mehr herunterkommen will. Von oben blickt sie sarkastisch auf ihre "total verzogene Tochter" und den eigenbrödlerischen Ehemann, der angeblich nur ihr zuliebe ein großes Familienfest geplant hat - und nun droht die bucklige Verwandtschaft aus Longview und Sweetwater zu kommen. "Die Sache ist, dass das alles Leute sind, die ich nicht einmal kenne, nie kennen möchte. Wegen dieser Leute habe ich ihn geheiratet, damit ich sie nie wiedersehen muss." Tiny, so wird die Erzählerin genannt, bleibt also oben, der Ehemann und sein Freund Rex verwirklichen derweil ihren wohltätigen Plan, jenseits der Grenze zu Mexiko über dem Elendsviertel von Juárez aus einem Kleinflugzeug milde Gaben für die Armen abzuwerfen, was auch gelingt - wäre da nur nicht besagter Schäfer, der leider ungünstig auf dem Feld steht.
Die zweite Weihnachtsgeschichte spielt im kalifornischen Oakland und keine zwanzig Jahre später, aber schon in einem ganz anderen Amerika. Wir blicken in eine Wohnung mit so vielen Bewohnern, dass man leicht durcheinanderkommt. Hauptmieterin ist die Erzählerin Maggie mit ihren drei halbwüchsigen Söhnen. Der Vermieter weiß nur von zweien, darum muss einer sich verstecken, was schwierig wird, weil noch ein Freund aus New Mexico zu Besuch ist, der im Wohnzimmer auf dem Boden schläft. Dann kommt auch noch Tante Zelda dazu, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat und auf Abenteuer aus ist, es allerdings kaum verkraftet, als sie erfährt, dass ihre Tochter lesbisch ist. Eine Nachbarin klingelt, um ein weihnachtliches Bad zu nehmen, und Maggies Lehrerkollegen kommen, weil sie einen Schüler hat durchfallen lassen: "Das ist herzlos, Maggie. Wie kannst du ein so lockeres Leben führen und eine derart strenge Lehrerin sein?"
Die Frage mit ihrem scheinbaren Gegensatz ist auf gewitzte Weise exemplarisch für die Dilemmata, in denen sich die Frauenfiguren der Autorin oft befinden. Wie wollen sie leben, welche Rolle sich geben? Lucia Berlin (1936 bis 2004) hatte in einer bewegten Biographie zwischen Süd- und Nordamerika, als dreimal verheiratete Mutter von vier Söhnen selbst reichlich Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen - und wir das Glück, ihre Antworten in fiktionaler und auch nichtfiktionaler Form (F.A.Z. vom 31. Juli) nachlesen zu können. Seit die zu Lebzeiten kaum Bekannte 2015, neu aufgelegt, zur Bestsellerautorin mit dem Band "A Manual for Cleaning Women" wurde, ist eine Art Hype um sie ausgebrochen - völlig zu Recht, denn ihre lakonische, witzige, aber auch knallharte Erzählweise ergänzt die bislang stark männerdominierte Literaturgeschichte der Short Story um eine bedeutende weibliche Stimme. Zwei Kurzgeschichtenbände von ihr auf Deutsch liegen bereits vor; komplementär zu dem zuletzt erschienenen Erinnerungsbuch "Welcome Home" versammelt "Abend im Paradies" nun Geschichten aus ihrer gesamten Werkspanne, mithin aus völlig verschiedenen kulturellen Sphären, die man schon den Titeln anhört: "Manchmal im Sommer", "Lead Street, Albuquerque", "Zeit der Kirschblüte", "Die Pony Bar, Oakland", "La Barca de la Ilusión", "Verloren im Louvre".
Die vorliegende Auswahl ist auch deshalb so interessant, weil sie eine Evolution des weiblichen Selbstverständnisses abzubilden scheint. In den frühen Geschichten, die Lucia Berlin in Chile schrieb und die auch dort spielen (etwa "Andado: Ein Schauermärchen"), ist noch von Anstandsdamen die Rede und von jungen Mädchen, deren viel ältere Männer ein von ihnen "völlig getrenntes gesellschaftliches Leben hatten". In der Mitte des Bandes sehen wir eine junge Mutter in New York, deren ständig gleicher Tagesablauf bei der Betreuung ihres Kleinkindes sie verrückt macht und zu einer Wutattacke auf den perfektionistischen Postboten treibt (eigentlich gilt sie aber dem Ehemann), dann auch Frauen der Bohème, die frei über ihre Beziehungen bestimmen. In den besagten Weihnachtsgeschichten, also auf einem Terrain mit sehr traditioneller familiärer Rollenverteilung, verdichtet Berlin spielerisch bis sarkastisch ihre Kritik daran. In einer Kriminalgeschichte aus Mexiko schließlich rammt eine schwangere Frau einem Drogendealer ein Messer in den Bauch.
Die Härte mancher Geschichten steht jener Charles Bukowskis in nichts nach - wie bei ihm geht sie oft einher mit Alkoholismus und anderen Süchten, die der Autorin selbst gut vertraut waren -, und diese Härte kann sich durchaus auch gegen Frauen richten.
Stilistisch hat Lucia Berlin aber auch noch ganz anderes zu bieten: Bisweilen wird es fast expressionistisch, wenn einer Krankenschwester ihre Patientin erscheint "wie ein Albinodinosaurier, eine Marmorkobra, ein magersüchtiger Windhund". Und Berlin beherrscht perfekt die Kunst des Weglassens: So entsteht eine oft rätselhafte Leerstellenprosa, die rezeptionsästhetisch sehr reizvoll ist.
Auf die eine oder andere Weise geht es in fast allen Erzählungen um weibliche Selbstbestimmung, ja Befreiung. Die allerletzte mit dem programmatischen Titel "Luna nueva" beschreibt, wie eine bald achtzigjährige Mexikanerin, die noch nie das Meer gesehen und zuletzt jahrelang ihren nun verstorbenen Mann gepflegt hat, endlich zum Strand gelangt, sanft umspült von Wellen. "Sie sind jetzt weg", sagt eine andere Frau da zu ihr - gemeint sind die Männer - "wir sind liberated." Auch Tiny, die Frau auf dem Dach unter dem texanischen Sternenhimmel zur Weihnacht, scheint das zu sein, sie hat eine Flasche Bourbon und ein kleines Radio, es geht ihr offenbar allein ganz gut. Aber dann kommen ihr doch die Tränen, als das Radio "Silent Night" spielt.
Lucia Berlin: "Abend im Paradies". Storys.
Aus dem Englischen von Antje Rávik Strubel. Kampa Verlag, Zürich 2019. 288 S., geb.
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