Besprechung vom 09.04.2022
Gesucht: Zornige Frauen
Veronika Peters führt ins Paris der Zwanzigerjahre
Es ist das Jahr 1925. Die frisch verheiratete Ann-Sophie zieht mit ihrem Ehemann Johann von Schoeller nach Paris, weg aus dem Berlin der Zwanzigerjahre, von dem sie nur die mondäne Seite kennt. Johann, Sohn eines Berliner Bankiers, ist Rechtsanwalt und dem Angebot seines Onkels Eugène de Sauveterre in dessen multinationale Kanzlei in der Rue Montmartre gefolgt. Das Paar bezieht eine Wohnung in der Rue Cujas, nahe dem Boulevard Saint-Michel. Es ist Frühling in Paris, aber Ann-Sophie fühlt sich fremd in der Hauptstadt der Moderne.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter verbrachte sie sechs Jahre in einem Mädchenpensionat am Genfer See, spricht also Englisch und fließend Französisch; sie wird das sehr bald brauchen können. Denn als sie, wütend über die harmlose Anmache von ein paar Studenten in einem Straßencafé, wegrennt, landet sie in der Rue de l'Odéon vor "Shakespeare and Company". Die Inhaberin des schon damals bekannten Buchladens, Sylvia Beach, steht rauchend vor der Tür und hat Spaß an Ann-Sophies Rage: "Sehr gut. Ich bin Sylvia. Kommen Sie herein, drinnen sind noch mehr zornige Frauen."
Ann-Sophie trifft auf die Schriftstellerin Djuna Barnes, das "Nachtgewächs" par excellence (Barnes' gleichnamiger Roman wird allerdings erst 1936 erscheinen), die am hellen Tag "einen seidig schimmernden Smoking mit gestärktem weißem Hemd" trägt: "Ihre schmalen, langgliedrigen Hände steckten in weißen Glacéhandschuhen, um den Hals hatte sie ein smaragdgrünes Seidentuch drapiert, die blauen Augen waren dezent geschminkt, der Mund glühte in tiefdunklem Rot." Im Hinterzimmer sitzen außerdem die Schriftstellerin Janet Flanner, wie Djuna Barnes Amerikanerin, deren Reportagen für das Magazin "The New Yorker" die künstlerischen Geschehnisse in Paris schildern, und die Buchhändlerin und Verlegerin Adrienne Monnier, Sylvia Beachs Lebensgefährtin, der schräg gegenüber "La Maison des Amis des Livres" gehört.
Voilà, die Crème der weiblichen literarischen Intelligenzia, willkommen in "Odéonia", so fängt die Geschichte an, in deren Verlauf sich der vorgezeichnete Lebensplan einer jungen deutschen Bourgeoise von Grund auf ändern wird; die Richtung lässt sich schon ahnen. Sylvia Beach stellt sie gleich als Hilfe in der Buchhandlung an, und zur Initiation bekommt sie ihren neuen Namen "Ann": "Sie sind allesamt so niederschmetternd spektakulär, dachte Ann-Sophie"; aber es wird sie nicht aufhalten. Veronika Peters erzählt in ihrem Roman "Das Herz von Paris" diese Story mit großer Verve und offensichtlich selbst hingerissen vom Pariser Mikrokosmos vor nun bald einem Jahrhundert.
Das Personal der Rive Gauche, zuvörderst das weibliche, tritt geschlossen auf, wenn Ann, Schritt für Schritt initiiert von ihren Begleiterinnen, auch in die Nächte von Paris vordringt. Einen Höhepunkt bildet dabei der grandios elitäre literarische Salon der superreichen Amerikanerin Natalie Clifford Barney, die, selbst für libertäre Verhältnisse, offensiv lesbisch lebt. Sie versucht, Ann in ihren Zirkel von Literatinnen und überhaupt in ihren Bann zu ziehen. Witzig ist, dass Veronika Peters dort auch Gertrude Stein, die andere mächtige Salonière, schon zwanzig Jahre zuvor für die künstlerische Avantgarde, mit ihrem weißen Pudel Basket (allerdings ohne ihre Frau Alice B. Toklas) sich einfinden lässt. Was natürlich nicht fehlen darf, ist Anns Begegnung mit einem jungen Maler, der sie, die attraktive Frau, die inzwischen ihren Stil zur modischen Garçonne gewechselt hat, in Versuchung führt.
Diese Rolle hat der affige begabte Pierre Lablais, als Prototyp des Künstlers von Montparnasse, den man sich ein wenig wie einen verspäteten Amedeo Modigliani vorstellen darf, der für seine Aktdarstellungen weltberühmt ist. Lablais stellt seine Bilder immerhin in der Avantgardegalerie "L'Effort Moderne" von Léonce Rosenberg aus, was Ann nervös werden lässt. Ist sie doch verheiratet mit Johann, der ihre Abwesenheiten und Eskapaden einstweilen hinnimmt.
Mit Johann, aber nicht nur mit ihm, fallen die Dialoge im Roman, in denen die Metamorphose von Ann-Sophie zu Ann sichtbar werden muss, mitunter etwas hölzern und lebensfern aus. So wenn sie ihren notwendig begriffsstutzigen Gatten über ungewöhnliche literarische Vergleiche belehrt: "Aber für mich sind solche kleinen Irritationen Vehikel, die neue, überraschende Kontexte aufzeigen, sie führen mich in gedankliche Weiten. Ein einziges Attribut kann eine aus zweifelhaften Gewissheiten verformte Welt verschieben. Das ist doch sehr aufregend, oder etwa nicht?" Der arme Kerl, was weiß er von Djuna Barnes, wie soll er das kapieren? Erstaunlich lange bleibt er geduldig, bis die schwierige Lage seiner Familie in Berlin über ihn hereinbricht, während seine Frau dem "neuen Geist" in den klugen Sprüchen ihrer Mentorinnen folgt. Dass für Ann auch noch Johanns kinderloser Onkel und Inhaber der Kanzlei De Sauveterre (was für ein hübscher Name) zum unerwarteten Bruder im Geiste wird, ist dann doch ein bisschen zu viel des Guten.
Veronika Peters geht es mit ihrer Protagonistin um den Prozess einer Selbstfindung, sie hat eine Art Entwicklungsroman geschrieben. Sie verquickt Emanzipation und Ausschweifung, Feminismus und Verweigerung normierter Geschlechtermodelle mit einem Anflug von "Lost Generation", der mehr oder weniger auch die intellektuellen Frauen von der Left Bank angehören. Der Begriff, den Ernest Hemingway populär machte, kam übrigens von Gertrude Stein, selbst Amerikanerin, die damit die vielen amerikanischen Literaten und Künstler jener Jahre in Paris meinte. Peters kommt um die Anmutung der Kolportage nicht ganz herum, manches ist doch zu sehr Klischee, allzu verdichtet ist die Atmosphäre der Rive Gauche, im Quartier Latin, um Saint-Germain-des-Prés und in Montparnasse. Es ist jedenfalls hilfreich, wenn man dafür schon etwas Ahnung von der aufregenden Zwischenkriegszeit in Paris hat. Und es ist fair, dass sie ein Verzeichnis von als Quellen und Inspiration benutzten Büchern anfügt. Dennoch liest sich "Das Herz von Paris" als ein charmanter Tag-und-Nacht-Ritt durch die so anziehenden Reviere. Am Ende, als Ann oberhalb von "Shakespeare und Company" in eine bescheidene Wohnung zieht, wird sie sagen: "Ein Zimmer für mich allein ist mehr als genug." Zum Schreiben, was sonst, und klar, Virginia Woolf (die aber wirklich nie in Paris lebte). ROSE-MARIA GROPP
Veronika Peters: "Das Herz von Paris". Roman.
Oktopus Verlag, Zürich 2022. 331 S., geb.
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