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Besprechung vom 18.02.2022
War der klügste Kaiser etwa drogensüchtig?
Unter Giftmischern, Spionen und Kurtisanen: Michael Sommer legt eine aufschlussreiche Sittengeschichte des alten Rom vor
Nutzte auch Cicero bisweilen einen formelhaften Fluch, um einen Feind den Unterweltgöttern zu überantworten? Machte er sich kundig durch eine einschlägige Anleitung, die begann mit "Nimm ein Bleitäfelchen und einen eisernen Ring, schreibe den Namen, das Zauberzeichen"? Vielleicht passte er die Vorlage seinem Begehren an und ritzte etwa: "Gebunden sei des Clodius Vernunft, auf dass er mich nicht in die Verbannung zu schicken vermag. Ich binde Clodius zu diesem Zweck. Er soll nicht reden, nicht widerstreben, nicht widersprechen, er soll mir nicht entgegenblicken oder entgegenreden können, sondern soll mir unterworfen sein, solange dieser Ring vergraben liegt." Oder wünschte er ihm gar den Tod? Wir wissen es nicht.
Die disziplinäre Systematik zur Untersuchung der Handlungsfelder im alten Rom legte einst strikte Trennungen nahe: hier die Feldzüge, die Politik, die strenge Moral, dort das Privatleben und die Kulturgeschichte. Strikt getrennt von den Göttern der res publica firmierte der Aberglaube der kleinen Leute, fast wie zwei Welten erschienen das öffentliche Agieren der Männer und die abgeschotteten Räume der Frauen. Handelten jene im Verborgenen oder mischten sich diese in die Politik ein, galt das als Zeichen des Verfalls. Römische Sittengeschichte war über weite Strecken Dekadenzgeschichte.
Michael Sommer kennt die verborgenen Unterwelten der Römer bestens, und er breitet die Früchte seiner Belesenheit geschickt aus; sein Blick durch die Schlüssellöcher unter Überschriften wie "Bettgeschichten. Von Kaisern und Kurtisanen" unterhält daher aufs Beste. Kurze Kapitel, anschauliche Schilderungen und gelegentlich eingestreute aktuelle Schlagwörter tragen zum Lesevergnügen bei. Doch der Oldenburger Althistoriker leistet mehr. Er bricht die erwähnten Trennungen auf und zeigt, wie die geheime Geschichte mit dem Grundproblem der stets prekären Ordnung verflochten war.
So lassen sich die Sanktionen gegen die dem Bacchus huldigenden Kultvereinigungen nach dem Hannibalkrieg als Ausdruck der Besorgnis in der römischen Führung deuten, erneut in weiten Teilen Italiens die Kontrolle zu verlieren. Gesetze gegen Giftmorde ebenfalls schon während der Republik deuten auf eine Angst, die Regeln könnten nicht mehr funktionieren. Und was sagt es über ein politisches System, wenn der Mann an der Spitze nicht anders als durch eine Verschwörung beseitigt werden konnte oder dynastische Unsicherheiten die Zubereitung eines tödlichen Pilzgerichts nahelegten?
Wie geläufig dieses Risiko war, erläutert Sommer an der gewiss mit Nebenwirkungen verbundenen Praxis des pontischen Königs Mithridates, sich durch regelmäßige Zufuhr kleiner Dosen von Gift gegen den einen großen Anschlag zu immunisieren, was ihm offenbar auch gelang. Kaiser Mark Aurel, geplagt von Schmerzen, Stress und Schlafmangel, nahm Theriak, möglicherweise vermischt mit opiumhaltigem Mohnsaft. Ob der intellektuell brillanteste Kopf unter den Kaisern wie Sherlock Holmes ein Drogensüchtiger war, lässt der Autor jedoch offen.
Sommer thematisiert immer wieder, wie heikel gerade beim verborgenen Leben die Quellenkritik ist. In der Schilderung der sogenannten Catilinarischen Verschwörung wäre allerdings wohl etwas mehr Distanz zu den Hauptzeugen Cicero und Sallust angebracht, die zwar "nahe dran" waren, doch zugleich aus unterschiedlichen Gründen unrettbar kontaminiert sind. Für die Kaiserzeit wird gezeigt, wie Gerücht, Insinuation und Verdunkelung beinahe systemnotwendig entstanden und nicht selten die Überlieferung zu prägen vermochten, gipfelnd in den Herrscherbiographien Suetons sowie der noch immer rätselhaften "Geheimgeschichte" Prokops über Justinian und Theodora.
Überzeugend gelingt es dem Autor, die oft skurrilen Nachrichten in ein facettenreiches Bild der römischen Welt einzubetten, einer Welt, die kein staatliches Gewaltmonopol kannte, doch Ordnung stiftende Bindekräfte, in der "privat" und "öffentlich" miteinander verschränkt waren und wo man Sexualität nach dem sozialen Raum beurteilte, in dem sie praktiziert wurde. Vieles blieb verborgen, doch wenn Vorgänge in die Öffentlichkeit gezerrt und skandalisiert wurden, erstaunt doch, wie handlungsfähig das System sein konnte; mit Recht weist Sommer auf die Fortschritte in der Strafjustiz und -verfolgung hin.
Mehrfach befragt er die Historische Anthropologie und sucht damit das Handeln der Akteure zu erklären. So fürchteten nicht nur die Eliten einen Kontrollverlust; dieser war vielmehr in der antiken Welt das Normale, und die Menschen nahmen, was zur Hand war, um der Zuversicht ein wenig aufzuhelfen. So handelt das Buch auch von Türschlössern, Empfängnisverhütung und Abtreibung sowie von der allgegenwärtigen Praxis, Konkurrenten im Bett, im Geschäft oder beim Wetten auf Wagenlenker durch standardisierte Verfluchungen zu schädigen. Sommer bringt ein in Groß-Gerau gefundenes Fluchtäfelchen aus Blei eindrucksvoll zum Sprechen. Auch Freunde von Spionen, Kriegslisten und Chiffriertechniken kommen auf ihre Kosten. In ihren Grabinschriften sprechen die Opfer von Alltagskriminalität zu uns.
Sommer entstaubt die Römer, wenn er Kaiser Claudius einen Womanizer nennt und von christlichen Aktivisten spricht, doch er simplifiziert nicht. Nach dem Verdampfen des humanistischen Bildungssubstrats bestehe die Chance, die Antike neu zu sehen, nämlich als ein "Laboratorium, wo mit dem historisch Möglichen auf sensationell kreative Weise herumexperimentiert wurde". Zu verstehen, auf welche Ideen Menschen kommen konnten, um mit dem Unverfügbaren zurechtzukommen oder ein Heil im Winkel zu suchen, ist nicht der geringste Ertrag dieses lesenswerten Buches. UWE WALTER
Michael Sommer: "Dark Rome". Das geheime Leben der Römer.
Verlag C. H. Beck, München 2022. 288 S., Abb., geb.
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