Fast auf den Tag genau 230 Jahre ist es jetzt her, dass Königin Marie Antoinette von Frankreich (oder die "Witwe Capet", wie sie damals offiziell hieß) in Paris die Guillotine besteigen musste. 91 Jahre ist es wiederum her, dass die bekannteste und derzeit einzige deutschsprachige Monographie über die Königin auf Deutsch erschienen ist: Stefan Zweigs "Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters". (Was die ganze Sache in vier Worten zusammenfasst ...)
Höchste Zeit also, eine neue Biografie der Königin vorzulegen. Michaela Lindinger und dem Molden Verlag ist es zu verdanken, dass man sich heute ebenso frisch wie fundiert mit dem Leben der Tochter Kaiserin Maria Theresias befassen kann.
Es war höchste Zeit, denn inzwischen haben mehrere Filmemacher Werke über die Königin vorgelegt, die dringend einer sachlichen Darstellung des Themas bedürfen. Nun ist es in der Geschichtsschreibung so, dass immer neue Quellen auftauchen, die bewertet werden müssen. Briefe, Akten, Memoiren etc. Wenn nun nahezu hundert Jahre vergehen, bevor sich jemand wieder mit dem Leben einer historischen Persönlichkeit befasst, bedeutet dies, dass falsche Behauptungen stehen bleiben. Dass Fabeln weitergetragen, sprich: abgeschrieben werden.
Wenn dann solch alten Zöpfe abgeschnitten werden und das Bettzeug ausgeschüttelt wird, freue ich mich ganz ungemein.
Ein Beispiel: Bei Zweig wird noch jene Geschichte kolportiert, dass Marie Antoinette, als sie an den französischen Hof übergeben wurde (das geschah auf einer Insel vor Straßburg, im Niemandsland sozusagen), nackt ausgezogen worden sei (vor den versammelten Höflingen), eine Linie habe überschreiten müssen, um dann französische Kleidung angelegt zu bekommen.
Eine ebenso rührende wie falsche Geschichte, die Generationen von LeserInnen mit Mitleid für das gedemütigte junge Mädchen erfüllt hat.
Es gab nichts dergleichen. Nicht eine zeitgenössische Quelle berichtet von dieser Entkleidung. Tatsächlich bekam sie zwar französische Kleider, aber so wie man das normalerweise tut: hinter verschlossenen Türen.
Es ist Michaela Lindinger vorbehalten gewesen, mit dieser Mär aufzuräumen.
Lindinger gebührt ebenfalls ein großes Lob dafür, dass sie das Thema an sich in die Gegenwart transportiert hat. Was früher Lügen und Propaganda hieß, sind heute Fake News.
So befasst die Autorin sich nicht nur mit dem Schicksal Marie Antoinettes in dieser Zeit, sondern mit dem Schicksal der Frauen im revolutionären Frankreich insgesamt.
Eindrucksvoll schildert sie das Schicksal der wenigen in der Revolution an der Spitze mitkämpfender Frauen. Überraschung! Sie wurden sehr schnell von den Männern vertrieben. Und zwar entweder auf die Guillotine, oder an den Herd, denn dort war - aus der Sicht des Revolutionärs - der einzig richtige Platz für eine Frau. Dort sollte sie viele, viele kleine Revolutionäre gebären und großziehen.
FAZIT:
Michaela Lindinger gelingt es mit ihrer Biografie, die Schwierigkeiten, in denen sich Marie Antoinette befand, in die Gegenwart zu übertragen. Man begreift sehr schnell, dass die politische Situation des Ancien Régime und der Revolution auch noch heute nachvollziehbare Ursachen hatten. Ja, Marie Antoinettes Schicksal wird zum beinahe exemplarischen Frauenschicksal in Zeiten massiver Veränderungen.
Es ist eine eigentlich zeitlose Geschichte, die hier vorgestellt wird.
Unterhaltsam und spannend geschrieben, kann sie sicherlich auch jüngere Leser für das Thema interessieren. Wobei es - wohlgemerkt - natürlich kein Jugendbuch ist.
Das verwendete Bildmaterial wurde nicht in einem Mittelblock zusammengefasst, sondern an der jeweils passenden Stelle eingefügt, wo es das zuvor Gelesene illustriert und auf den Punkt bringt. Das gefällt mir sehr gut, denn so wird vermieden, einfach ein Sammelsurium an netten Fotos zu präsentieren.
Wem würde ich das Buch empfehlen? Im Prinzip jedem, der sich zum einen für das französische Königtum interessiert und zum anderen für die individuellen Lebensgeschichte(n). Außerdem ist es ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Frauen.