Besprechung vom 30.01.2021
Vom Los der Frauen
Xue Mos China-Roman "Die Riten der Wüste"
Wer heute über China spricht, redet meist als eine studierte Person. Gegenstand sind ebenfalls Studierte und die glitzernden Städte, in denen diese leben und agieren. Falls sie das Sagen haben, verkünden sie in Peking Harmonie und das kommende Paradies für das gesamte Land. Manch Gutes ist da bereits geschehen, doch immer noch ist da eine andere Welt, die unaufgeklärte der Bauernschaft, die es so nach dem Selbstverständnis der Partei seit 1949 gar nicht mehr geben dürfte.
Der Erzähler Xue Mo (die chinesische Schreibzunft liebt Pseudonyme) entführt uns in eine Gegenwelt. Eigentlich bedeutet Marxismus Aufklärung, aber er scheint überall einen Rest an Aberglauben hinterlassen zu haben, der mal mit Schamanismus, mal mit Taoismus, mal mit Konfuzianismus getadelt wird. Der Autor ist in Liangzhou geboren, eigentlich im heutigen Wuwei, einer alten Stadt an der Seidenstraße der Provinz Gansu. Dieser Ort am Rande der Wüste im Nordwesten von China ist sein Gegenstand. Er wählt für sich das schwierigste Genre: den langen Roman, der kaum noch beherrschbar erscheint.
Das Erzählen beginnt stark. Es konzentriert sich auf eine Familie mit vier Kindern. Da fragt sich die Leserschaft, wie vier Kinder in China möglich sein sollen. Zu Recht. Der Roman erwähnt zwar die Jahre 1958 und 1960, als die Hungersnot am größten war, ansonsten aber spielt alles in einem zeitlosen Raum. Man kann vermuten, dass die achtziger Jahre gemeint sind, doch mag der Erzähler durchaus dem Prinzip von Zeitlosigkeit verpflichtet zu sein. Denn er ist Buddhist. Auf der Frankfurter Buchmesse von 2019 habe ich mich mit Xue Mo zwei Stunden lang vor einem großen Publikum über Laotse unterhalten können. Der Taoismus vertritt eben auch seine Art der Zeitlosigkeit alles menschlichen Geschehens: Es ist immer so.
Doch gefällt das uns aufgeklärten Menschen? Der Taoismus ist eigentlich ein Befürworter des Weiblichen, der Buddhismus nicht unbedingt unähnlich. Und damit gelangen wir in die Problematik des Romans. Zunächst: Er beginnt stark mit der Falknerei einer Familie. Die Jagd auf Kaninchen wird zur Frage nach Tod und Vergeltung. Doch der Raubvogel wird dann erst kurz vor Schluss wieder erwähnt. Dieser Erzählstrang scheint sich also zu verlieren, wie auch mach anderer (Tod einer Tochter in der Wüste, außereheliche Schwangerschaft).
Beherrschendes Thema sind weniger die blanke Armut und die tägliche Not der Landbevölkerung als der Schamanismus und das damit verbundene Los der Frauen. Frau und Tier bilden nach herkömmlicher chinesischer Auffassung eine Einheit. Noch heute können wir in China Männer behaupten hören, Frauen wären keine Menschen. Dem Roman zufolge sind sie Füchse oder Hunde. Auch gut, mag der Mann als Tierliebhaber meinen, wenn er bedenkt, was ansonsten vertreten wird: Frauen wären Wesen mit langem Haar und kurzem Verstand. Doch all dies kommt nicht aus dem Munde des Erzählers, sondern entspringt dem Herzen - nicht nur dem der Bauern.
Frauen werden gekauft und verkauft. Das kann selbst heute in Peking noch der Fall sein, wie mir jüngst eine Hausangestellte erzählte, die zwecks Hochzeit ihres Bruders für dreitausend Yuan (circa vierhundert Euro) angeboten wurde.
Die Stärke des Romans "Die Riten der Wüste" liegt in seiner Offenheit: Der Erzähler verurteilt nicht, er schildert. Die Männer sind genauso geknechtet wie die Frauen. Grund dafür ist der immer noch herrschende Ahnenkult, der einen Sohn verlangt und diesem alles abverlangt, damit die Opfer an den Schreinen gewährleistet sind. Doch die Frauen, obwohl immer wieder verprügelt, sind alles andere als Schwächlinge, sie gelten als Männer-Diebe, denn nachts holen sie sich ins Bett, wonach ihnen der Sinn steht.
Der Roman besticht in deutscher Übersetzung. Er ist keine leichte Kost, doch wer das "unstudierte" China kennenlernen will, sollte hier beginnen.
WOLFGANG KUBIN
Xue Mo: "Die Riten der Wüste". Roman.
Aus dem Chinesischen von Peter Kolb. Bacopa Verlag, Schiedlberg 2020. 592 S., Abb., geb.
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