Besprechung vom 27.07.2021
Majestät fährt über Land
Halt ein aufgeklärter Monarch: Monika Czernin widmet sich den Reisen von Kaiser Joseph II.
Von historischen Ereignissen lässt sich ein umso genauerer Eindruck gewinnen, je näher sie an unserer Gegenwart sind - Fotografie, Film- und Tonaufnahmen sei Dank. Die Neugier, wie es wirklich gewesen, macht jedoch auch vor der medialen Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts nicht Halt, ob es sich um Haupt- und Staatsaktionen oder um banalere Einblicke in das Alltagsleben der Großen handelt. Nicht selten ist beides gar nicht voneinander zu trennen, wenn sich beispielsweise die Frage danach, was sich unter royalen Bettdecken abspielte, mit dynastischen Erwägungen überschnitt. Wer wüsste zum Beispiel nicht zu gerne, was Joseph II. mit seiner jüngsten Schwester Marie Antoinette besprach, als er sie anlässlich seiner großen Frankreichreise im Jahr 1777 besuchte?
Die Überlieferung will wissen, dass er sachdienliche Hinweise dafür gab, wie genau es der in diesen Dingen etwas hilflose französische Kronprinz anstellen solle, doch noch zu einem Thronfolger zu kommen. In Sofia Coppolas Biopic "Marie Antoinette" kann man die beiden belauschen, wie sie durch den Garten von Versailles spazieren und über das Prinzip von Schlüssel und Schloss fachsimpeln. Dafür bekam Coppola 2006 in Cannes nicht die Goldene Palme, aber immerhin den dort vergebenen nationalen Bildungspreis.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen nutzt zur Erfüllung seines Bildungsauftrags das Format der historischen Dokumentation. Mit ihr soll die Lücke zwischen den aus trockenem Aktenstudium gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der historischen Imagination geschlossen werden. Gezeigt werden Experten, wie sie Archivkästen aus dem Regal ziehen und mit Schutzhandschuhen in vergilbten Dokumenten blättern. Aufnahmen der Protagonisten werden aus Gemälden herangezoomt, Kameraschwenks gleiten über Landschaften. Und manchmal gibt es obendrauf Spielszenen mit aus Originalzitaten montierten oder erfundenen Dialogen.
In der gedruckten Literatur haben historische Dokumentationen kaum ein Äquivalent; man müsste sie wohl zwischen historischen Romanen und Biographien mit mehr oder minder großen fiktiven Anteilen ansiedeln. Wenn eine Charakterisierung auf Monika Czernins aktuelles Buch über die Reisen des Kaisers Joseph II. zutreffen sollte, dann ebendiese. In der Tat hat sich Czernin außer mit Sachbüchern bereits mit Fernseh-Dokumentationen einen Namen gemacht, unter anderen zu "Maria Theresia - Majestät und Mutter". Czernin konzentriert sich in "Der Kaiser reist inkognito" auf einen Aspekt, zu dem es zwar einiges an Detailforschung gibt, aber bislang noch keine eigene Darstellung: die zahlreichen Reisen, die der Habsburger im Laufe seines Lebens unternahm.
Josephs Biograph Derek Beales rechnete einmal aus, dass der Kaiser ein Drittel seiner Regierungszeit unterwegs war und dabei fast fünfzigtausend Kilometer zurücklegte. Nicht nur die Vielzahl der Reisen und die beachtliche Wegstrecke sind einzigartig. Er reiste auf besondere Weise. So war er, abgesehen von großen Staatsreisen, gerne mehr oder minder inkognito unterwegs. Unter dem Titel eines Grafen von Falkenstein konnte er damit dem ungeliebten Zeremoniell ausweichen. In der Mehrzahl handelte es sich um Inspektionsreisen in alle Länder des Habsburgerreichs, die dem Zustand der militärischen Anlagen oder der Verwaltung genauso wie den wirtschaftlichen Verhältnissen galten. Nicht zuletzt gaben wohl auch die ungeklärten Machtverhältnisse als Mitregent seiner Mutter Maria Theresia Anlass dazu, sich immer wieder vom Hof zu entfernen.
Czernin konzentriert sich in ihrer Auswahl auf insgesamt neun Reisen, die er vor allem in seiner Zeit der Koregentschaft ab 1765 und schließlich als Alleinregent des Habsburgerreichs von 1780 bis zu seinem Tod 1790 unternahm. Ihre Auswahl begründet sie damit, dass sie vor allem jene Reisen aufgenommen habe, die ihrer Meinung nach die größte Bedeutung für Josephs Reformen hatten. Das gibt die Perspektive des Buches vor, welches Joseph als einen durch und durch aufgeklärten Menschen und seine Reisen sogar als "Inkarnation des aufgeklärten Projekts" darstellt. Dadurch zwängt Czernin ihre insgesamt kenntnisreiche Darstellung allerdings in ein holzschnittartiges Schema, das alle fortschrittlichen Aspekte des josephinischen Regierungshandelns dem Einfluss der Aufklärung zuordnet und Ambivalenzen ausblendet. So lässt sich beispielsweise sein Bemühen um die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Verwaltung, mit der er einen gewaltigen Modernisierungsschub auslöste, mit guten Gründen in erster Linie als eine Machtstrategie interpretieren, die nicht der Verbreitung aufgeklärter Ideale, wohl aber der Sicherung der Herrschaft diente.
Dass "nur wer dem Denken der französischen Enzyklopädisten nahestand", wie Czernin dies für Joseph annimmt, "den Wert von Vernunft und empirischen Fakten zu schätzen" wusste, ist wohl eher eine unglückliche Erklärung für eine Reisepraxis, in der es darum ging, so viel Erfahrungswissen wie irgend möglich zu sammeln. Anschaulichkeit ist schließlich auch das Anliegen der Autorin in der Darstellung von Josephs Reisen, mit Schilderungen aller Arten von Unbequemlichkeit und Anstrengungen, die mit holprigen Wegen und unbequemen Kutschen verbunden waren, von Schmutz, Armut oder Krankheiten in den Einrichtungen, die Joseph besichtigte.
Schon zu Lebzeiten verdichteten sich Geschichten über seine Nahbarkeit und seinen Erfahrungshunger immer wieder in ikonischen Szenen. Berühmt wurde eine Episode aus dem August 1769, als der Kaiser in einem mährischen Dorf in der Nähe von Brünn seine Reise wegen eines Achsschadens unterbrechen musste, einem auf einem angrenzenden Acker pflügenden Bauern den Pflug aus der Hand nahm und selbst mit dem Pferdegespann einige Furchen zog. Im neunzehnten Jahrhundert, als eine regelrechte Welle des Josephskults über Österreich rollte, wurden Szenen wie diese auf bunten Bilderbogen festgehalten und verbreitet. Czernins Imagination schließt nahtlos an diese Bilderwelt an. Es wimmelt von verlegen stotternden Untertanen, von "Euer Majestät" und "untertänigster Diener". Manchmal erinnern die Dialoge an schlechte "Tatort"-Szenen, in denen der Stand der Ermittlungen rekapituliert wird. Und manchmal schießt die Phantasie der Autorin deutlich über das historisch Belegbare hinaus: "Mit zarter Hingabe überließ sie sich seiner Leidenschaft", Josephs früh verstorbene erste Frau nämlich, Isabella von Bourbon-Parma. Da senkt auch die Rezensentin den Blick. Wer bei Fernsehdokumentationen kein Fan von Spielszenen ist, dem sei von der Lektüre abgeraten. SONJA ASAL
Monika Czernin: "Der Kaiser reist inkognito". Joseph II. und das Europa der Aufklärung.
Penguin Verlag, München 2021. 383 S., geb.
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