Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist - und wurde dafür vielfach ausgezeichnet.
»Man muss ihr zuhören und sie lesen, denn ihre Erzählung wird uns für immer verändern. « Beata Umubyeyi Mairesse
Das Buch, über das ganz Frankreich sprach, der Überraschungs-Bestseller, mit sechs Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. dem Prix Femina und dem Premio Strega Europeo 2024. »Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort. « Aus der Begründung der Schüler:innen-Jury für den Prix Goncourt des lycéens
Eine in ihrer radikalen Ehrlichkeit außergewöhnliche Schriftstellerin. Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist. Und von den vielen Facetten von Erinnerung, den vielen Gesichtern eines Menschen in Ungeheuerlichkeit und Banalität. Wie werden wir zu denen, die wir sind? Kommt vor Gericht zur Sprache, was in Familien ungesagt bleibt? Neige Sinno erzählt vielstimmig, nähert sich ohne Pathos der Wahrheit. Ein kristallklarer Stil, ein so kluges wie Mut machendes Buch, das in Frankreich die Herzen von Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern eroberte.
Besprechung vom 12.09.2024
Du kriegst nur meinen Körper
Diese Brutalität stellt das Universum vor Rätsel: Neige Sinnos Selbstbefragung "Trauriger Tiger" erzählt von Vergewaltigung in der Familie.
Kann man sich vom Grauen einer Kindheit, in der man jahrelang regelmäßig vom Stiefvater vergewaltigt wurde, je erholen und ein "normales" Leben führen? Kann Literatur dabei helfen, Orientierung zu finden? Kann das eigene Schreiben vom Trauma befreien? All diese Fragen stellt sich die französische Autorin mit dem schönen Märchen-Vornamen Neige - die Schwester heißt Rose, Schneeweißchen und Rosenrot also. Ihre Kindheit ist von fröhlichem Chaos und phantasievoll verkleideter Armut geprägt. Aber nachdem sich die Hippie-Eltern trennen, ist die bis dahin glückliche Kinderzeit zu Ende. Neige Sinno ist sieben, als der neue Partner der Mutter, vital, viril und sehr dominant, dem zarten, aber rebellischen Mädchen zum ersten Mal sein erigiertes Glied in den Mund stößt, neun, als er sie vergewaltigt, "manchmal täglich", fünfzehn, als es aufhört, siebzehn, als sie endlich die Kraft hat, das Schweigen zu brechen und ihn anzuzeigen.
Die Mutter, immerhin, glaubt ihr, trennt sich vom Täter und unterstützt sie, was Opfern nicht oft passiert - Alice Munros Tochter ist ein Beispiel fürs Gegenteil. Meist verstärkt die Rolle der Mutter, die zum Täter hält, Schmerz und Ausgrenzung. Ihr eigenes Leben rekonstruiert Neige Sinno, von Albträumen verfolgt, so weit entfernt vom Tatort wie möglich, in Mexiko. Dort umhüllt sie sich mit einer fremden Sprache.
Beim Versuch, ein Täterporträt zu erstellen, sich in seinen Kopf zu versetzen, versagt ihr die Sprache. Lange hat sie in ihm einen "Demiurgen", ein "überlebensgroßes Geschöpf", ein "Fabelwesen, einen Sisyphus, einen von Dämonen gefolterten Prometheus" gesehen, später, mit etwas Abstand, stellt sie das Bild eines "armen Kerls" dagegen, der die Gabe der Manipulation besaß und die Verletzlichkeit derer ausnutzte, die schwächer waren als er. Zwischen Titan und Jammerlappen: "Ist es nicht besser, Opfer des Ersten als des Letzten zu sein", fragt sie sich und legt damit ihre ganze innere Zerrissenheit bloß.
Klein und schmächtig, in übergroßen gebrauchten Kleidern und Bergstiefeln, ist die junge Neige alles andere als eine nymphette, als er anfängt, sie zu missbrauchen. Sie hat noch nicht einmal alle Milchzähne verloren, reicht ihm gerade bis zur Taille, praktisch für Oralsex. Was ihn reizt, ist ihr rebellischer Blick, ihre Weigerung, ihn Papa zu nennen und ihn zu "lieben". Reden über den Missbrauch, gar Anzeige erstatten, damit sprengte man die Kernfamilie in die Luft. Was würde aus ihnen werden? Dem Täter ist es ein Leichtes, die Notlage der Familie und das Machtgefälle auszunutzen. Sie versucht es mit Tagebuchschreiben, er liest alles, sie verbrennt alles. Trotzdem bleibt die Literatur als Zufluchtsort.
Der Täter wirkt in "Trauriger Tiger" immer wieder charismatisch. Die Gründerin und Leiterin einer Opfervereinigung sagt beim Prozess für ihn aus. Er erhält fünf Jahre Gefängnis und dort viel Post von Frauen und häufig weiblichen Besuch, danach findet er auf dem Jakobsweg eine neue Partnerin im Alter seines Opfers, mit der er einen Biobauernhof aufbaut und vier weitere Kinder in die Welt setzt - neben den beiden, die er schon mit der Mutter des Opfers hat. Die halten den Kontakt zu ihm: "Uns hätte er nie etwas angetan."
Die Autorin sucht Halt und Orientierung in der Literatur, zitiert Virginia Woolf, Toni Morrison, Annie Ernaux - und Christine Angot, die schon drei Bücher über erlittenen Inzest, diese "unmögliche Liebe", geschrieben hat und mit ihrem letzten Buch, "Reise nach Osten", 2021 in die Endrunde des Prix Goncourt gekommen war. Sie sucht nach vergewaltigten Kindern in der Literatur von Zola, Maupassant, Lautréamont, Faulkner, Vargas Llosa, García Márquez, bei Céline, Le Clézio, Foster Wallace und andren. Sie geht immer wieder auf Nabokovs Lolita ein, die vor allem durch die Verfilmung unser Bild vom aufreizenden Nymphchen geprägt hat, das die Verführung genießt. Aber auch auf Dante und Petrarca mit ihren Kindfrauenphantasien, die niemand ernstlich hinterfragt, da sie ja transzendiert und mystifiziert werden. Kindesmissbrauch hätte durchaus einen Höllenkreis verdient, findet sie.
Aus dem Umfeld der "Opferliteratur" zitiert die Autorin Margaux Fragosos Roman "Tiger, Tiger" von 2011, dem sie den Titel ihres eigenen Buchs entlehnt hat. Dessen eigentlicher Ursprung aber ist das Gedicht "The Tyger" von William Blake mit der Verszeile "Schuf er, der auch das Lamm schuf, dich?" Diese Frage wird Neige Sinno zur Obsession. "Der Tiger ist eine prometheische Gestalt, eine Feuer-, eine Todesfigur. Und seine unermessliche Brutalität stellt das Universum vor ein Rätsel."
In Frankreich wird die Diskussion um sexuellen Missbrauch in der Familie dank der dort erschienenen Literatur seit einigen Jahren intensiv geführt, wenn auch nicht frei von Unterstellungen und Ressentiments gegenüber den Opfern, so vor allem dann, wenn es Prominente betrifft wie im Falle von Camille Kouchners "La familia grande" von 2021, die nach jahrzehntelangem Schweigen den quälenden Missbrauch ihres Zwillingsbruders durch den Stiefvater, einen sehr bekannten Juraprofessor, publik machte. Die "große Familie" wendet sich ab, nicht aber, um den Täter zu ächten, sondern weil Camille und ihr Bruder das Schweigekartell durchbrochen haben.
Neige Sinno gelingt es in ihrem vielstimmigen Text, neben der eigenen stringenten Erzählstimme auch einen breiten, manchmal chaotischen Bewusstseinsstrom zuzulassen. Das erlaube ihr, sich weniger allein zu fühlen, weniger eingeschlossen in der eigenen Geschichte, sagte sie in einem Gespräch mit "Paris Match". Auch wir als Leserinnen werden so zu Freundinnen und Verbündeten, die sie häufig direkt anspricht. Sie ist verhalten in dem, was sie direkt preisgibt, das latente voyeuristische Interesse des Publikums räumt sie knapp ab: "Er hatte seine Freude daran, mir wider meinen Willen Lust zu bereiten. Indem er mir diese Lust verschaffte, machte er mich zum Komplizen meiner eigenen Vergewaltigung." Aber ein Orgasmus bedeute nicht notwendigerweise, dass man Freude daran habe, schreibt sie lakonisch.
Erschreckend ist, wie Neige Sinno beschreibt, dass ihr Gedächtnis aus all den quälenden Jahren nur die Erinnerung an die Vergewaltigungen bewahrt hat, alles andere ist begraben, muss mühsam durch Dritte rekonstruiert werden. Die Dissoziation ihres Ichs ist dem Missbrauch geschuldet: "Du glaubst, du kriegst mich, aber das bin nicht ich, das ist nur mein Körper." Briefe, Zeitungsartikel und Ausschnitte aus Gerichtsprotokollen unterstreichen die Erinnerungen. Die Kindheit bleibt für sie das "Land der schwarzen Morgensonnen". Noch mit zwanzig fühlt sie sich, als wäre eine Kriegsmaschinerie über sie drübergegangen. Sie ist jetzt frei, aber sein Schatten ist überall.
Ihre Bilanz ist nicht ohne Bitterkeit. Sie hat überlebt, aber es fällt ihr schwer, sich sicher zu sein, dass es sie gibt. Schon Virginie Despentes hatte geschrieben, dass jede Vergewaltigung sich anfühle, als wäre sie gestern passiert. "Ich bin nicht gerettet", so Neige Sinno. "An dem Tag, als ich mich schon tot wähnte, bin ich wahrscheinlich ein wenig gestorben, und das Gespenst, das mich überlebt hat, ist die Frau, die bis heute durchgehalten hat."
"Trauriger Tiger" war in Frankreich auf Anhieb ein großer Erfolg und erhielt zahlreiche Preise. Die Schülerinnen, die dem Buch den Prix Goncourt des lycéens zuerkannten, schrieben in ihrer Begründung: "Neige Sinno verspricht ganzen Generationen, aus dem Labyrinth der Schande und des Schweigens herauszufinden. Und sie bestätigt die unabweisbare Macht der Literatur." Dem ist nichts hinzuzufügen. BARBARA VON MACHUI
Neige Sinno:
"Trauriger Tiger".
Aus dem Französischen von Michaela Meßner. Dtv, München 2024.
304 S., geb.
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