Besprechung vom 27.12.2023
Ähnlichkeiten und Unterschiede
Im großen Nachschlagewerk über Nordeuropa kommt sogar der Humor nicht zu kurz
Nordeuropäer gelten nicht als die größten Unterhalter. Doch Witze werden in der Region gerne erzählt. Fast immer sind die jeweiligen nordeuropäischen Nachbarn Gegenstand des Spotts, nur die Dänen machen auch Witze über die Deutschen - was auch an der konfliktträchtigen gemeinsamen Geschichte liegen dürfte. Meist reiben sich die kleineren Nachbarn an den vergleichsweise großen Schweden. Die werden als überheblich und steif dargestellt, die Norweger wiederum aus schwedischer Sicht als begriffsstutzig und ungewaschen, die Finnen als schweigsam und die Dänen meist als schwer zu verstehen und betrunken.
Dreieinhalb Seiten widmet das Anfang Dezember erschienene Buch "Nordeuropa" dem Thema Humor. Das ist für dieses Buch schon viel. Denn es hat sich sehr viel vorgenommen: Von Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark und Island werden Geschichte, Staatsform und Gesellschaft, aber auch Wirtschaft, Wissenschaft, Sprache und Religion, ja sogar Kunst und Literatur behandelt. Auf rund 1000 Seiten haben 84 Fachleute aus 13 Ländern Beiträge beigesteuert, rund 1,6 Kilogramm wiegt das Buch. Am Stück lesen kann das niemand. Tiefgänge darf auch keiner erwarten. Doch als Nachschlagewerk ist das Buch unbedingt zu empfehlen. Es ist überwiegend prägnant geschrieben und weist viele Bezüge zum aktuellen Geschehen auf.
Dabei haben Vergleiche der nordeuropäischen Staaten meist die große Schwierigkeit, dass diese auf den ersten Blick so ähnlichen Länder bei genauerem Hinsehen sehr unterschiedlich sind. Dieses Problem geht schon bei der Begrifflichkeit los: Im Ausland ist oft von Skandinavien die Rede, doch umfasst der Begriff eng gefasst nur die Skandinavische Halbinsel - sprich Schweden und Norwegen. In der Region wird daher meist der Terminus "nordische Länder" genutzt. Diese fünf Länder sind sehr unterschiedlich, etwa was Sprache, Geographie, aber auch Politik angeht. Zugleich gibt es offenkundig viele Gemeinsamkeiten. Wie also vergleichen? Das vorliegende Buch sucht dieses Problem mithilfe einer großen Differenzierung zu lösen.
Dabei kreisen die Beiträge immer wieder um die Frage von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Außenpolitisch etwa sorgte zuletzt der Ukrainekrieg für eine starke Vereinheitlichung. Das Buch hilft zu verstehen, wie groß die außenpolitischen Umwälzungen in der Region sind. Nach 1949 hatten sich die nordischen Staaten außenpolitisch sehr unterschiedlich entwickelt. Norwegen, Dänemark und Island waren Gründungsmitglieder der NATO, Schweden und Finnland blieben bündnisfrei. Finnland sah sich in seiner Neutralitätspolitik zu großer Rücksicht auf die Interessen der Sowjetunion gezwungen, um nicht Teil derselben zu werden. Schwedens Neutralität wiederum war "nicht nur der neutralitätspolitischen Position des Landes" entsprungen, wie es im Buch heißt, sondern die Neutralität diente auch dazu, die Sowjetunion davon abzuhalten, am Status quo mit Finnland zu rütteln. Heute hingegen ist Finnland NATO-Mitglied, Schweden steht kurz vor dem Beitritt und hat kürzlich mit den USA ein Verteidigungsabkommen unterzeichnet, das sogar die Lagerung von Atomwaffen zulässt - was bis vor Kurzem undenkbar war. Es ist auch die Sorge vor einer Wiederwahl Donald Trumps und einer ungewissen Zukunft der NATO, die die nordischen Länder derzeit derlei Abkommen abschließen lässt.
In der Europapolitik gibt es im Norden hingegen einen Flickenteppich mit sehr unterschiedlichen Integrationsansätzen, auch darauf geht das Buch ein: Nur Dänemark, Schweden und Finnland sind EU-Mitglieder, wobei Dänemark etwa in der Migrationspolitik einen Sonderweg geht. Schweden und Dänemark sind keine Eurostaaten, Finnland hingegen schon. Überhaupt ist Finnland, was Europa angeht, das Musterland im Norden. Sowohl der EU-Beitritt wie auch die Einführung des Euros hatten hier, wie es in dem Buch heißt, aufgrund der Nähe und des besonderen Verhältnisses zu Russland stets auch eine "geo- und sicherheitspolitische Komponente". Zugleich zeigen sich in der Europapolitik auch wieder Gemeinsamkeiten: Europaskeptische rechtspopulistische Parteien haben starken Zulauf, in Schweden tolerieren sie eine Minderheitsregierung, in Finnland regieren sie sogar mit.
Ähnlich ist die Situation beim Stichwort Migration: Auch hier gab es sehr unterschiedliche Entwicklungen, wobei Schweden einen Sonderfall darstellt. Das Land wird seit Jahrzehnten geprägt von hohen Einwanderungszahlen, mit vielen auch negativen Folgen - etwa im Bereich der Bandenkriminalität. Dänemark und Norwegen setzten hingegen seit dem Ende der Achtzigerjahre eine weit restriktivere Politik um. Zugleich zeigen sich zuletzt verstärkt Gemeinsamkeiten. So eint mittlerweile alle Länder das Ziel, die Fluchtmigration zu reduzieren. Von einem "nordischen Niveau" der Asylstandards ist nun auch in Schweden die Rede, als Vorbild gilt Dänemark.
Vorbildhaft sind alle nordischen Länder, wenn es etwa um die Freiheitsrechte geht. Die Staaten gehören zu den großzügigsten Gebern der Welt, sie setzen sich als humanitäre Supermächte und globale Friedensstifter ein. Doch auch hier trägt das "Nordeuropa"-Handbuch zur Differenzierung bei: Aus Sicht der Minderheiten wie der Sami oder auch der Grönländer seien universelle Werte und Normen noch nie in allen Teilen der Länder und für alle Einwohner gültig gewesen, heißt es da. JULIAN STAIB
Bernd Henningsen (Hrsg.): Nordeuropa. Handbuch für Wissenschaft und Studium.
Rombach Wissenschaft im Nomos Verlag, Baden-Baden 2023. 947 S.
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