Besprechung vom 10.12.2019
Seine Schwäche für Maria della Tromba
Lombardische Rhythmen: Peter Schneider erzählt aus dem Leben Antonio Vivaldis und vom ersten Mädchenorchester Europas
Peter Schneider ist plötzlich wieder da. Mit den Kultbüchern "Lenz" (1973) und "Der Mauerspringer" (1982) brachte dieser Berliner Anführer der Studentenbewegung große Teile seiner Generation hinter sich. Unermüdlich bearbeitete er verwandte politische Themen, so etwa 1968 ("Rebellion und Wahn"), die deutsche Teilung ("Paarungen"), Mauerfall und Hausbesetzer ("Eduards Heimkehr"). Erst in den letzten Jahren wandte sich Schneider mehr der eigenen Geschichte zu, dem Älterwerden ("Club der Unentwegten", 2017) ebenso wie dem Leben seiner Mutter zwischen ihrem Mann, einem Kapellmeister, und ihrem Geliebten, einem Opernregisseur ("Die Lieben meiner Mutter", 2013).
An die eigene Herkunft aus einer Musikerfamilie knüpft jetzt auch sein neues Buch über Antonio Vivaldi an. Die Genrebezeichnung "Roman eines Lebens" ist recht vage. Folgt man Karl Philipp Moritz' einleitenden Worten zu seinem "psychologischen Roman" "Anton Reiser", der aufgrund vieler "Beobachtungen, größtenteils aus dem wirklichen Leben", auch eine (Auto-)Biographie genannt werden könnte, mag das Etikett passen. Allerdings erzählt Schneider nicht einfach aus der Vita des Barockkomponisten, sondern er legt die überwiegend italienischen und amerikanischen Quellen für seine historische Forschung offen, besucht Archive, zieht Autobiographien von Casanova, De Brosse, Goldoni, Da Ponte oder Rousseau für das Zeitkolorit mit heran und bringt sich schließlich als ein seit Jugendtagen selbst musizierender und die italienischen Originalschauplätze inspizierender Schriftsteller mit zur Geltung.
Entstanden ist auf diese Weise eine Mischgattung zwischen einem sorgfältig recherchierten und erzählerisch plausibel ausgeschmückten Leben, einem Sachbuch mit Literaturhinweisen und Begriffsglossar und schließlich einer Reflexion über das eigene Erkenntnisinteresse und Schreibverfahren. Meist ist durch die Kapitelgrenzen klar, welche der drei Perspektiven gerade eingenommen wird, es gibt aber auch Abschnitte, in denen sich die Stimmen vermischen. In den fiktionalen Passagen, meist Dialogen, fallen anachronistische Begriffe wie Coach, Combo, Party oder VIP störend auf.
Schneider setzt sich von dem zunehmend beliebten Genre historisch erfundener Lebensgeschichten positiv ab, indem er der Verlockung allzu empfindsamer Seeleneinblicke und kühner Spekulationen widersteht. Im Leben Vivaldis, das vor allem die Bücher der Engländer Michael Talbot (1978, deutsch 1985) und Micky White (2013) sowie des Italieners Gianfranco Formichetti (2017) erschließen, konzentriert er sich auf Vivaldis fast lebenslange Tätigkeit als Violinlehrer und Konzertmeister am Ospedale della Pietà, dem zentralen Waisenhaus für Mädchen in Venedig. Mit den begabtesten figlie della Pietà begründete er nicht nur ein Musikensemble von Rang, sondern komponierte auch in atemraubender Geschwindigkeit (vertraglich geforderte) Konzerte für dieses Orchester sowie Instrumentalstücke für einzelne Solistinnen. Vivaldi war seit 1703 geweihter Priester, gab den Kirchendienst aber zugunsten der Musik nach und nach auf, was in Rom nicht gerne gesehen wurde. Ob dafür tatsächlich ein Asthmaleiden ausschlaggebend war, bleibt historisch wie in der Erzählung offen.
Peter Schneider bietet ein sehr lebendiges Bild vom alltäglichen Leben in der Pietà, der Arbeit mit den figlie privilegiate, den Meisterschülerinnen, dem allmählichen Aufstieg dieser sozialen Einrichtung zur begehrten Musikakademie. Natürlich kursierten schon zu Vivaldis Zeit Gerüchte über ein mehr als professionelles Verhältnis des Maestros zu seinen Schülerinnen. Schneider geht damit sehr besonnen um, in seiner literarischen Imagination entwickelt er beispielsweise eine Neigung zu Maria della Tromba - alle Waisenkinder führen statt des Nachnamens die Bezeichnung des gespielten Instruments - und später zu der Sängerin Anna Giró, seiner Primadonna, Reisebegleiterin und Geschäftspartnerin. Mangels Quellen stellt er Vivaldis Einhaltung des Keuschheitsgelübdes aber nicht leichtfertig in Frage. In den Regiekapiteln diskutiert er diesbezügliche Publikumserwartungen für einen mit dem Kameramann Michael Ballhaus geplanten Vivaldi-Film. Ihm ist das Buch auch gewidmet.
Besonders schön ausgemalt ist die Vertreibung aus Venedig mittels einer satirischen Schmähschrift, vermutlich aus der Feder eines Konkurrenten. Vivaldi entkommt nach Rom und hat ein grandioses Vorspiel beim Papst, bei dem er sich in eine Reihe mit Corelli stellt. Das Stück "La follia", Variation eines auch von Bach, Händel, Mozart oder Scarlatti bearbeiteten Wahnsinnstanzes aus dem sechzehnten Jahrhundert, tragen zu Vivaldis Erfolg ebenso bei wie sein zur neuen Mode gewordener lombardischer Rhythmus, der durch eine kurz anschlagende betonte und eine nachfolgend punktierte Note eine vorauseilende Dynamik entfaltet. Statt biographischer Vollständigkeit folgt Schneider seinen Interessen, etwa mit Vivaldis Oper "Motezuma" über die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés, die er selbst schon in seinem Historiendrama "Totoloque" (1985) bearbeitet hat. Weitere Barockopern und deren Aufführungen hebt er hervor und erzählt schließlich von Vivaldis wenig dokumentiertem Abschied von Venedig in Richtung Wien im Zeichen eines sich wandelnden Musikgeschmacks.
Der einst so beliebte lombardische Rhythmus beflügelt auch dieses Buch. Es eilt in 52 prägnanten Kapiteln voran und entfaltet dabei ein vielfältiges Panorama der Musik und Festkultur in Venedig und darüber hinaus. Vivaldi, der erst nach zweihundert Jahren wiederentdeckt wurde und dessen "Vier Jahreszeiten" einem selbst in Aufzügen oder Telefonwarteschleifen entgegenschallen, hat einen geschickten und inspirierten Erzähler für seine Lebensgeschichte gefunden. Wie Antonio Vivaldis Musik ist sie populär, aber das muss kein Makel sein.
ALEXANDER KOSENINA
Peter Schneider: "Vivaldi und seine Töchter". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
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