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Besprechung vom 05.10.2024
Der Kampf um die Weltmeinung ging schnell verloren
Israel in der schlimmsten Krise seiner Geschichte: Saul Friedländers Tagebuch nach dem 7. Oktober
Der erste Teil von Saul Friedländers "Israelischem Tagebuch", geschrieben zwischen Januar und Juli 2023, erschien wenige Tage nach den Ereignissen des 7. Oktober (F.A.Z. vom 28. Oktober 2023). In ihm präsentierte der in den USA lebende, über neunzig Jahre alte israelische Holocaustforscher eine Abrechnung mit Benjamin Netanjahu und seiner "Siedlerregierung" und blickte dabei auch zurück auf vergangene Jahrzehnte israelischer Politik, mit der - unterbrochen nur durch den Hoffnungsschimmer der Osloer Vereinbarungen - die Annäherung an eine Zweistaatenlösung unmöglich wurde. Die Hardliner und Extremisten beider Seiten behielten die Oberhand, auf israelischer Seite zuletzt in Netanjahus aktuellem Regierungsbündnis - für den um deutliche Worte nicht verlegenen Friedländer, Vertreter des europäisch geprägten, liberalen, der Religion fernstehenden Lagers, schlicht eine "Bande von Verrückten" oder, etwas analytischer, ein "typisch messianisches Regime, eine Mischung aus extremem Nationalismus und extremer Religiosität, zu der sich noch cliquenhafte Interessen gesellen".
Diese Kritik oder fast schon Verfluchung nimmt Friedländer selbstredend nicht zurück, wenn er am 7. Oktober seine Eintragungen fortsetzt. Die Mitverantwortung Netanjahus an der Katastrophe dieses Tags werde ihm bei den nächsten Wahlen das Amt kosten. Schließlich würden, so notiert er am 20. Oktober die Ergebnisse einer Umfrage, mehr als achtzig Prozent der Israelis Netanjahu und seine Koalition loswerden wollen. Doch leider sei das im Augenblick nicht möglich. "Kurz gesagt: Israel steht vor der schlimmsten Krise seiner Geschichte, und das unter den denkbar schlechtesten internen Bedingungen."
Vor dem Ausmaß dieser Krise verschließt Friedländer in keinem Moment die Augen. Er sieht sehr früh die Dilemmata, denen Israel nicht entkommen kann: die israelischen Geiseln als Hindernis der unabdingbaren Vergeltung und Ausschaltung der Hamas, deren skrupellose Benutzung der Zivilbevölkerung wiederum die israelische Armee zur grausamen Macht werden lässt - mit den Folgen einer medialen Darstellung, die weltweit antiisraelische Proteste hervorbringt, in die altbekannte antijüdische Affekte einklinken. Den "Kampf um die Weltmeinung", notiert er Ende November, "hat Israel von Anfang an verloren, und das wird mit der Zeit immer deutlicher". Für den Beobachter sei es zudem unmöglich inmitten der Kämpfe "zu wissen, welche israelischen Operationen militärisch notwendig sind und welche von der schieren Gleichgültigkeit gegenüber zivilen Opfern diktiert werden".
Friedländer ist nicht verwundert über diese Mechanik, aber dann doch überrascht von der Vehemenz, mit der Israel verdammt wird. Und von einem Antisemitismus, der sich auch Bahn bricht, wo er ihn in dieser Heftigkeit nicht erwartet hatte. Der "wahrhaft älteste Hass" breite sich jetzt wieder aus, nämlich "in einer Vielzahl von Verkleidungen, meist sozialen oder ethnischen Missständen und Konflikten, die auf einen pro-palästinensischen Kampf projiziert werden". Da bleibt der Tagebuchschreiber, der aufmerksam die internationale Presse liest, eher im Vagen. Doch nicht ohne die Frage aufzuwerfen, ob man "am Ende einer Verschmelzung des muslimischen Judenhasses mit dem christlichen zu neuen satanischen Bildern von den 'Feinden der Menschheit'" entgegengehen könnte.
An der Zweistaatenlösung führt für Friedländer kein Weg zu einem dauerhaften Frieden vorbei, auch wenn sie nun fast unmöglich schient. In Israel gebe es dafür zu viele Rechte, notiert er sechs Wochen nach dem 7. Oktober, und die Hamas würde eine friedliche Lösung ohnehin nicht akzeptieren. Was für die nächsten zehn Jahre, vielleicht eine Generation zu erwarten sei: "Waffenstillstände, die vielleicht ein paar Jahre halten, aber weitere Explosionen sind garantiert." Der ein halbes Jahr später geschriebene Epilog zu den Aufzeichnungen kann diese düsteren Aussichten nicht aufhellen, zu unklar ist, wie eine Beendigung des Kriegs aussehen könnte. Dabei ist es geblieben, und die zweite Front im Norden, an deren Möglichkeit Friedländer zum Schluss erinnert, samt der Konfrontation mit dem Iran, sie ist mittlerweile Realität. HELMUT MAYER
Saul Friedländer: "Israel im Krieg". Ein Tagebuch.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
C. H. Beck Verlag,
München 2024. 204 S.,
geb.
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