Von der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk - ein Roman über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen.
Eine Frau leidet, nach unglücklichen Beziehungen aus der Bahn geworfen, unter Panikattacken und verlässt monatelang die Wohnung nicht. Sie findet Orientierung und Halt in einer historischen Figur, die für die Geschichte der Ukraine eine große Rolle spielte: Wjatscheslaw Lypynskyj. Der leidenschaftliche Geschichtsphilosoph und Politiker entstammte einer polnischen Adelsfamilie, die in der Westukraine lebte. Schon früh identifizierte er sich mit der Ukraine und bestand auf der ukrainischen Form seines Namens. Nach dem Studium befasste er sich politisch und historisch mit dem zwischen Polen und Russland zerrissenen Land und forderte wie besessen seine staatliche Unabhängigkeit. Ein Kampf, der ihn durch verschiedene Länder führte und persönliche Opfer kostete.
Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und - wie er - auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen.
Ein literarisch beeindruckender Roman, der zeigt, was es heißt, wenn die eigene Identität aus Angst, Gehorsamkeit und Vergessen besteht.
Besprechung vom 10.04.2019
Darf ich dir meine Sammlung ukrainischer Barockpoesie zeigen?
Quellenstudium und Imagination: Tanja Maljartschuk therapiert durch Geschichtsarchäologie
Wie hängen ein verkorkstes Liebesleben und schwere Panikattacken mit der Geschichte des Heimatlandes zusammen, wenn dessen Bemühungen, ein eigenständiger Staat zu werden, immer wieder kläglich scheiterten? Sehr konkret, durch das Prinzip kommunizierender Röhren, legt der Roman der Exil-Ukrainerin Tanja Maljartschuk "Blauwal der Erinnerung" nahe, der vom ukrainischen Programm des Senders BBC vor drei Jahren zum "Buch des Jahres" gekürt wurde und jetzt bei Kiepenheuer & Witsch in einer schönen Übersetzung von Maria Weissenböck herauskam.
Die in Wien lebende Maljartschuk, die eigene psychophysische Leiden wiederholt als Echo einer kollektiven Stigmatisierung geschildert hat, wählt sich darin als Spiegel und Alter Ego den polnisch-ukrainischen Historiker und politischen Publizisten Wjatscheslaw Lypynskyj (1882 bis 1931), der im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts für eine unabhängige Ukraine jenseits von Kommunismus und Nationalismus focht, damit aber selbst unter Unabhängigkeitskämpfern nur eine Minderheit erreichte. Identifikatorisch erzählend entreißt die Autorin Lypynskyjs Leben der Vergessenheit - wie der Originaltitel des Buches "Sabuttja" übersetzt heißt - und inszeniert so den Menschenleben wie Plankton zermalmenden "Blauwal" der fortschreitenden Zeit wie auch kontrapunktisch die konservierende Kraft des kulturellen Gedächtnisses.
Freilich verklammert der gemeinsame Geburtstag im April, durch ein Jahrhundert getrennt, das Leben der Ich-Erzählerin auch symbolisch kalendarisch mit ihrem Helden. Als Lypynskyj im österreichischen Exil mit 49 Jahren an Tuberkulose starb, wütete in der Ukraine die durch Stalins Zwangskollektivierung der Agrarbetriebe künstlich erzeugte Hungersnot Holodomor, die den Urgroßvater der Autorin umbrachte. Als Spross eines polnischen Adelsgeschlechts, der bis zum letzten Atemzug seiner verlorenen Sache treu blieb, verkörperte Lypynskyj jene Würde, die die Sowjetmacht Maljartschuks Landsleuten systematisch austrieb. Geboren in Wolhynien zu einer Zeit, da es Teil des Russischen Reichs war, und polnisch katholisch erzogen, studierte er ukrainische Geschichte in der alten Haupt- und Universitätsstadt Krakau, während diese der Habsburger-Doppelmonarchie unterstand und wo man über seinen ukrainischen Wahlpatriotismus nur den Kopf schüttelte.
Die Autorin hat sich tief in ihr Quellenmaterial, historische Literatur, Memoiren, Briefe, Zeitschriften, Fotografien eingearbeitet und haucht der verschütteten Epoche mit poetischer Imagination und filmischen Ausschmückungen literarisches Leben ein. Wie Lypynskyjs Noblesse und intellektuelle Leidenschaft ihm das Herz einer Studentin und Opponentin erobern, die dann als Ehefrau an der Mission ihres Gatten verzweifelt und sich scheiden lässt, bereitet sie in melodramatischen Szenen auf mit viel Sinn für das Wechselspiel von Liebessehnsucht und Grimm. Sie porträtiert die oft mittellosen, verfolgten Vordenker der ukrainischen Emanzipation mit ihrer nicht selten zerrütteten geistigen oder physischen Gesundheit. Etwa den schwärmerisch liebenswürdigen Dichter und Publizisten Wassyl Domanyzkyj, den ebenfalls die Schwindsucht früh dahinraffte, den Sozialisten Dmytro Donzow, der sich zum radikalen Nationalisten umdefinierte, oder den jovialen Kiewer Zeitschriftenfürsten Jewhen Tschykalenko, der als verarmter Emigrant starb.
Aus den historischen Rekonstruktionen springt die Erzählerin immer wieder vor zur eigenen Lebensgeschichte mit ihren amourösen wie existentiellen Verlust- und Vergeblichkeitserfahrungen. Die Affäre der Studentin mit einem verheirateten Literaturprofessor eröffnet ihr die Schönheiten der ukrainischen Barockpoesie, endet aber für beide im Katzenjammer. Nach einer gescheiterten Annäherung heiratet sie einen Mann, der ihre immer häufigeren Angstzustände geduldig mitträgt und sie bittet, sich behandeln zu lassen, bis auch er sich irgendwann abwendet. Wie die Ich-Figur seitenlang mit ihren, wie sie findet, ungenügenden intellektuellen Kapazitäten und ihrer vermeintlich pathologisch vergrößerten Seele hadert, wie sie ihre Buchpublikationen als überflüssig abtut und die Agoraphobieanfälle ausführlich ausmalt, ist eine mühselige Lektüre. Durch die Beschäftigung mit Lypynskyj, der viel mehr riskierte und verlor und für den es, wie sie betont, keine ärztliche Hilfe gab, kann sie sich schließlich selbst kurieren.
Denn die irrationalen Ängste und der Putzzwang werden, das veranschaulichen Maljartschuks Erinnerungen an ihre ebenfalls putzwütige Großmutter, durch das schwarze Loch einer geschichtslosen Vergangenheit heraufbeschworen. Die konsequente Zerstörung realhistorischer Spuren betrieb insbesondere die nach dem Ersten Welt- und Bürgerkrieg siegreiche Sowjetmacht, wofür viel später, kurz vor ihrem Zusammenbruch, die hochtechnologischen Störsender, die die Erzählerin als Kind für Empfangsantennen hielt, symptomatisch erscheinen: Sollten diese doch verhindern, dass der abgerissene Geschichtsfilm mit Hilfe von Signalen aus dem Ausland wieder lesbar würde. Und als sie Lypynskyjs Geburtsort und letzte Ruhestätte im galizischen Saturzi aufsucht, muss sie erfahren, wie man den Friedhof mit seinem Grab und der polnischen Kirche dem Erdboden gleichmachte, als dieser Teil der Ukraine sowjetisch wurde.
Literarisch am stärksten, weil authentisch und erfahrungssatt, sind im Buch die Porträts der Großeltern geraten, die von ihrer Epoche schwer gezeichnet wurden. Die ständig den Boden wischende Oma, die den Holodomor nur überstand, weil ihr todgeweihter Vater sie vor einem Waisenhaus aussetzte, erzählt in immer wieder neuen Varianten, wie sie tagelang auf einem Grabstein hockte und um ihr Leben schrie, womit sie die Enkelin mit ihrem Trauma infiziert. Der Opa überlebte durch Konformismus, eine aufgesetzte Frohnatur und indem er sich bei Gefahr dumm stellte.
Indem Maljartschuk Wjatscheslaw Lypynskyj zu einem Doku-Romanhelden macht und aus seiner Tochter, zu der er keinen Kontakt hatte, eine Figur macht, die ihm am Ende seines Lebens Fragen stellt, kräftigt sie nicht nur die Wurzeln des jungen ukrainischen Geschichtsbewusstseins, das geprägt ist von der Erinnerung an Rückschläge und vergeblichen Widerstand. Das Regime des Kosakenhetmans Pawlo Skoropadski, dem Lypynskyj 1918 als seinem Monarchen diente, hielt sich wenige Monate, die bürgerliche Nachfolgeregierung wurde im Bürgerkrieg zerrieben, den die straff organisierten, brutalen Bolschewiken gewannen. Zugleich nimmt sich das solidarische Verantwortungsgefühl Lypynskyjs für das von seinen Landsleuten kolonisierte Land aus heutiger Sicht fast ein wenig wie ein Vorbote der europäischen Idee aus. Und sein Eintreten für ein territoriales Prinzip der neuen Ukraine, die Einwohnern von unterschiedlicher Herkunft, Konfession und Sprache Heimat sein sollte, könnte die zerrissene ukrainische Gesellschaft der Gegenwart durchaus etwas lehren.
KERSTIN HOLM
Tanja Maljartschuk: "Blauwal der Erinnerung". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 286 S., geb.
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