Besprechung vom 12.07.2023
Sind Kinder der einzige Lebenssinn? Vier Haltungen von Frauen zu Mutterschaft:
Verena Keßlers beziehungsreicher Roman "Eva"
Menschen, die sich bewusst dagegen entscheiden, Kinder zu bekommen, sind in unserer Gesellschaft in der Unterzahl. Vielleicht rührt es daher, dass die Reaktionen auf diese Haltung - auch Antinatalismus genannt - derart emotional eskalieren. Die Lehrerin und Publizistin Eva Lohaus bekommt dies zu spüren, als ein Interview über ihren Essay "Verhüten rettet Leben" einen Shitstorm auslöst. Darin hatte sie sich für gewollte Kinderlosigkeit ausgesprochen, da sie eine lebenswerte Existenz im Angesicht der Klimakatastrophe künftig für unmöglich hält: "Keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Es muss allen klar sein, dass jedes Kind, dass heute geboren wird, die Folgen der Klimakrise mit voller Härte zu spüren bekommen wird. Sehr wahrscheinlich wird es Ressourcen-Kriege geben, die den gesamten Planeten betreffen."
Obwohl all dies durchaus so geschehen sein könnte, ist der obige Fall fiktiv. Er wird erzählt im Roman "Eva" von Verena Keßler und ist gewissermaßen die Ausgangslage dessen Ausgangspunkt. Geschildert wird der allerdings nicht aus der naheliegenden Perspektive von Eva Lohaus selbst, sondern aus der von Sina, einer Journalistin, die das Interview geführt hat. Als Erzählerin im ersten Teil schildert Sina, wie das Thema Mutterschaft sie ununterbrochen im Alltag beschäftigt - ein Umstand, den vermutlich fast alle (jungen) Frauen nachvollziehen können: "Irgendwann hat es einfach angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Wir waren vielleicht Mitte zwanzig, als sich dieses Thema allmählich in Gespräche mit Freundinnen schlich, als wir anfingen, einander zu fragen, ob wir es uns vorstellen könnten, wann der richtige Zeitpunkt wäre, wie viele wir wollten und mit wem. Eine Weile war das alles rein hypothetisch. Doch dann machte die Erste ernst."
Auch Sina trifft irgendwann eine Entscheidung und möchte ernst machen. Doch es klappt nicht. Welche Untersuchungen und gesellschaftliche Stigmata sie deshalb über sich ergehen lassen muss, wird im Roman eindrücklich geschildert. Schließlich überkommt Sina der Gedanke, es wäre einfacher gewesen, sich von Anfang an gegen Kinder zu entscheiden. "Sollten wir wirklich kinderlos bleiben, wäre das für immer ein Grund, uns zu bemitleiden." Dass Sina sich ein Leben ohne Kinder nun eigentlich ganz gut vorstellen kann und sich dabei nicht unerfüllt oder unvollständig fühlt, können ihre Freunde nicht nachvollziehen.
Nach gut sechzig Seiten endet Sinas Innenperspektive, und im restlichen Roman kommen drei weitere Frauen mit ihrer Sicht auf Mutterschaft zu Wort. Eine von ihnen ist Mona, Sinas ältere Schwester. Sie und ihr Partner Roman haben drei Kinder und erziehen diese in tradierter Rollenverteilung. Als Mona beispielsweise erfährt, dass die zweite Schwangerschaft Zwillinge sind, bittet sie Roman, mehr Erziehungsarbeit zu übernehmen. Er entgegnet nur lachend: "Jetzt komm mal runter" und "Wir kriegen das schon hin". Die Verantwortung, die Mona übernehmen muss, raubt ihr den Schlaf, die Nerven und schließlich auch ihre Lebensfreude.
Doch die Abgründe ihrer Gedanken kann sie nicht ausdrücken, auch nicht gegenüber ihrer Schwester Sina. Mona schämt sich für ihr Gefühl, der Mutterrolle nicht gerecht zu werden, ebenso wie für den Wunsch, diese lieber abzugeben, während Sina ihre Schwester um deren Mutterschaft beneidet. Insofern geht es auch um die schwesterliche Beziehung von Sina und Mona - darum, wie neben der kindlichen Verbundenheit im Laufe der Zeit auch eine Distanz zwischen beiden aufgekommen ist. Und darum, wie Sina dies als Verlust an Nähe wahrnimmt und darüber erschüttert ist, während Mona bereits als Kind den Wunsch nach Distanz verspürte und sich bis heute danach sehnt, mehr für sich allein zu sein.
Die Schwestern in ihrer Gegensätzlichkeit werden noch um die Perspektiven der Lehrerin Eva Lohaus und einer namenlosen Nachbarin von Mona erweitert. Auch diese beide Figuren schildern in unmittelbarer Gedankenrede ihre Lebensentwürfe mit oder ohne Kinder und die damit zusammenhängenden Zweifel. Vier Frauen und deren unterschiedliche Perspektiven bestimmen also den Aufbau des Romans. Nacheinander übernehmen sie die Rolle der Erzählerin, die Handlung verläuft allerdings trotz dieser facettenreichen Perspektivierung chronologisch ab. Da die Figuren zudem alle in verschiedenen Beziehungen zueinanderstehen, entsteht auf erfrischende Weise ein dramatischer Effekt.
Die Idee, vier Frauen mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Elternschaft in der Klimakrise vorzustellen, macht aber nicht nur den Reiz des Romans aus, sondern läuft zugleich Gefahr, sich selbst zu sabotieren. Denn manchmal fühlt sich das Durchspielen der Figuren allzu formelhaft an und erscheint wie ein literarisches Labor: Man nehme eine Frau A, die zwar will, aber aus unerklärlichen Gründen keine Kinder haben kann, und füge hinzu eine Schwester (Frau B), bei der es genau andersherum ist. Wenn dieses Gemisch nun auf eine Lehrerin (Frau C) trifft, die sich öffentlich dafür ausspricht, keine Kinder zu bekommen, und noch dazu eine Frau D tritt, deren Kind kürzlich verstorben ist, kommt es wie geplant zum großen Knall. Nur, dass der im Roman ausbleibt.
Stattdessen sind die Figuren so präzise durchdacht, dass man ihnen ihre Gemachtheit stellenweise leider anmerkt. Sie scheinen kein Eigenleben zu entwickeln und handeln häufig nur schemenhaft. So verhält es sich beispielsweise mit Eva und ihrer Abgebrühtheit, die von Anfang an etwas aufgesetzt wirkt. Ihrem Gefühl der Einsamkeit, nachdem ein langjähriger Geliebter sich von ihr getrennt hat, begegnet sie buchstäblich mit dem Vorschlaghammer: "Sie holte aus, schlug zu, holte aus, schlug zu und ließ sich von dem befriedigenden Geräusch des bröckelnden Steins antreiben." Schließlich kann Evas harter Kern doch geknackt werden, und zwar ausgerechnet von einem Kind: der Nachbarstochter, die auf der Suche nach einer Mutterfigur jeden Nachmittag in Evas Küche landet.
Doch obwohl das Konstrukt des Romans an einigen Stellen wie ein nur grob verputzter Rohbau durchscheint, ist es trotzdem in sich stabil und konsequent zu Ende geführt. Diese Stringenz leistet vor allem der schnörkellose, glasklare Stil Keßlers. "Schlichtheit und Genauigkeit", die bereits beim Debüt der Autorin "Die Gespenster von Demmin" gelobt wurden (F.A.Z. vom 14. November 2020), zeigen sich somit auch in ihrem neuen Roman. In Bezug auf die Figuren hat das zur Folge, dass jede ihrer Einstellungen und ebenso ihre Handlungsmotivationen wegen des präzisen Ausdrucks nachvollziehbar erscheinen. Dadurch gelingt es Keßler, vier verschiedene Meinungen zu einem höchst kontroversen Thema abzubilden, ohne dass der Roman selbst Stellung bezieht. Dieser Kunstgriff - den die Autorin auch in ihrem Debüt vollzog - wird allerdings in der Rezeption sehr unterschiedlich gewertet, mal als feige und mal als kluge Zurückhaltung. Während Jan Brachmann in dieser Zeitung den "Kleinmut" in Keßlers Erstling bemängelte und sich eine Positionierung in den Debatten um Erinnerungspolitik gewünscht hätte, wird "Eva" bislang für die Zurückhaltung des Romans betreffs der Position des Antinatalismus gelobt.
Obwohl etwas mehr Moralkeule und etwas weniger Zurückhaltung bei diesem ebenso aktuellen wie polarisierenden Thema begrüßenswert gewesen wären, muss man Eva Keßler zugutehalten, dass sie, indem sie auch von negativen Gefühlen und sozialem Erwartungsdruck rund um Mutterschaft erzählt, die Enttabuisierung dieser Aspekte voranbringt. Dieses durchaus feministische Anliegen ist auch abseits des Zusammenhangs mit der Klimakrise von Relevanz. Wünschenswert wäre eine Gesellschaft, in der die Lebensentwürfe aller vier im Roman geschilderten Frauen respektiert und toleriert würden. Aber Fälle wie den fiktiven Shitstorm um Eva Lohaus gibt es auch in der Realität: Verena Bunschweiger, welche die Vorlage für die Figur der Eva war, ist im Internet heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Und die Scham, die Mona angesichts ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Mutterrolle empfindet, ist ebenso real, wie beispielsweise die Erfahrungsberichte unter dem Hashtag #regrettingmotherhood noch immer belegen. Besonders in diesem Kontext ist Verena Keßlers "Eva" lesenswert, leistet er doch mit seiner nüchternen emotionalen Klarheit etwas, was aufgeheizte Talkshowdebatten nur verfehlen können. EMILIA KRÖGER
Verena Keßler: "Eva". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 208 S., geb.
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