Neue Erzählungen von Russlands Meister der Groteske.
In »Die rote Pyramide« versammelt Vladimir Sorokin, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands, neun Erzählungen aus den letzten Jahren, die alle auf ganz unnachahmliche Weise das Leben im postkommunistischen Russland aufs Korn nehmen.
In den neun Erzählungen, die Vladimir Sorokin für diesen Band zusammengestellt hat, geht es immer um eine durch den Verfall der Sowjetunion deformierte Gesellschaft. Das zeigt sich beim Einzelnen, wie in der Titelgeschichte, in der der junge Jura eine Vision erfährt, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr loslässt. Es zeigt sich aber auch im Politischen, wie in der Geschichte »Lila Schwäne«, in der die russischen Atomsprengköpfe plötzlich in Zuckerhüte verwandelt wurden und man sich nicht anders zu helfen weiß, als einen wundertätigen Religionsgelehrten um Hilfe zu bitten. Und es zeigt sich im Zusammenspiel der Menschen, ihrer gesellschaftlichen Interaktion, wie in der Geschichte »Der Fingernagel«, in der vier befreundete Ehepaare zu einem Abendessen zusammenkommen, das auf Grund von Toilettenpapiermangel vollkommen außer Kontrolle gerät.
Vladimir Sorokin gelingt in diesem Erzählungsband das Kunststück, aus scheinbar unabhängigen Einzelgeschichten ein Ganzes zu schaffen. Die Komposition ist strukturiert und ausbalanciert. Sorokin zeigt einmal mehr, wie meisterhaft er auch die kleine Form und verschiedenste stilistische Mittel beherrscht und eröffnet seinen Leser*innen einen Blick auf Russlands Gegenwart und Vergangenheit, die so vergangen eben doch nicht ist.
Besprechung vom 05.04.2022
Herren ohne Scham
Vladimir Sorokin erzählt von russischen Kontinuitäten
Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB." Mit diesem Satz lässt sich in gewisser Weise das Credo des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin zusammenfassen. Er, der in der Sowjetunion verboten und kurz nach dem Regierungsantritt Putins von dessen sittenwächterlichen Gefolgsleuten verpönt und verklagt worden ist, sieht als knallroten Faden der russischen Geschichte den Geheimdienst. Iwan der Schreckliche legte damit los, und Sorokin hielt diese Entwicklung literarisch bereits beispielsweise in "Der Tag des Opritschniks" oder "Der Zuckerkreml" fest.
"Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB." Diese Worte hat Sorokin in seiner Erzählsammlung "Die rote Pyramide" einem sowjetischen Geheimdienstler in den Mund gelegt. Ein junger Pionier hört sie heimlich mit. Der Mann säuselt sie, nachdem er gerade eine junge Pionierin vergewaltigt hat. Die Schlussfolgerung des Jungen? Er geht zum KGB. Jahre später sitzt er unter Andropow mit einem Kollegen zusammen, beide übertrumpfen sich mit ihren Gräueltaten, die zugleich ein wilder Parforceritt durch die Geschichte sind. Chronologische Genauigkeit spielt keine Rolle, wichtig ist die grundierende Kontinuität. Die beiden KGBler gestehen von Deportation, Anzettelung der Ärzteverschwörung bis zu Erschießungen alles ein. Immer wieder stellen sie sich wechselseitig die Frage: "Und schämst du dich nicht?" Immer wieder antworten sie: "Nein."
"Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB." Die insgesamt neun Erzählungen kreisen nicht immer explizit um den Geheimdienst, aber letzten Endes steht er selbst hinter Mangelwirtschaft und Gewaltbereitschaft. Über das Land ist eine riesige Propagandaglocke gestülpt. "Hier ist alles, als ob." Werte wie Freiheit und Frieden ebenso wie Materielles wie Käse und Autos. Selbst Atomsprengköpfe bestehen eigentlich aus Zucker . . . Wenn das niemand bemerkt, liegt das an der roten Pyramide. Und Lenin ist der "Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte", direkt am Roten Platz. Sie ist nötig, um "die innere Ordnung des Menschen zu stören", damit "der Mensch aufhört, Mensch zu sein", weshalb normalerweise niemand das Ding sieht. Das vermag man nur im Augenblick des eigenen Todes.
"Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB." Der Geheimdienst ist nicht nur in dieser Sammlung eine zentrale Größe im Werk Sorokins. Was das Schalten und Walten dieser Organisation bedeutet, hält er mit vielfältigen literarischen Mitteln fest. Er ist derb bis hin zum Vulgären und anspielungsreich bis hin zum Unverständlichen. Aber er ist auch in kurzen Texten wie diesen Erzählungen mitunter zu lang. In der Geschichte "Der Fingernagel" widmet Sorokin sich nicht nur dem russischen Klopapierdefizit, sondern beschreibt auch über Seiten hinweg eine Keilerei an der Festtafel. Vor allem verlieren seine Geschichten jedoch dadurch, dass sie von enormer Bedeutungsoffenheit in banale Aussagen wie: Der Kommunismus "ist nicht die lichte Zukunft, sondern das rote Rauschen von heute" abfallen.
"Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB." Sorokin hat dieser Tage in einem Essay behauptet, Putin habe bei Regierungsantritt den "Ring der Macht" übergestreift und sei dadurch zu dem geworden, der er heute sei. Das entspricht Sorokins Sicht der Pyramide: An der Spitze steht ein Mann. Putin, so Sorokin, habe nun eine rote Linie überschritten, deshalb könne die Pyramide einstürzen. Oder der Ring vernichtet werden. Doch in J. R. R. Tolkiens Epos gelingt das nur, weil der Kampf gegen das System kein Duell ist, sondern weil "Gefährten" gegen Sauron antreten. Und noch ein fiktiver Spiegel sei erhoben: In Graham Greenes "Unser Mann in Havanna" lassen sich die Briten Staubsaugerpläne gegen viel Geld als Pläne für militärische Anlagen unterjubeln. Es wird in Zukunft auch darauf ankommen, ein Verbot von Memorial nicht als Spielanleitung für Mensch ärgere dich nicht zu lesen.
Vladimir Sorokin, geboren 1955 und jüngst Unterzeichner eines Briefs russischer Schriftsteller, in dem von der Regierung im Kreml die Preisgabe der Wahrheit über den Krieg in der Ukraine gefordert wird, legt den Finger auf diese Fragen. Literarisch vielleicht nicht immer ganz überzeugend, politisch aber umso brisanter. CHRISTIANE PÖHLMANN
Vladimir Sorokin: "Die rote Pyramide". Erzählungen.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 192 S., geb.
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