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Besprechung vom 16.08.2024
Die soziale Frage löst ein Leutnant mit zehn Mann
Die Weimarer Republik ging an vielen Faktoren zugrunde, inneren wie äußeren. Aber ihr Untergang im Frühjahr 1933 war keineswegs zwangsläufig, wie Volker Ullrich meint.
Der Mann hieß Scholz: Ernst Scholz. Seit 1923 war er Fraktionsvorsitzender der liberalen Deutschen Volkspartei, und nach den Wahlen im Mai 1928, aus denen die Sozialdemokraten als Sieger hervorgegangen waren, blockierte er wochenlang - und gegen den Willen seines Parteichefs Gustav Stresemann - den Beitritt der DVP zu der Regierungskoalition, die der SPD-Vorsitzende Hermann Müller zu schmieden versuchte. Als Müller dank Stresemanns Intervention dennoch Erfolg hatte, wartete Scholz auf seine Chance, den sozialdemokratischen Kanzler zu stürzen.
Sie kam im Frühjahr 1930 bei den Verhandlungen - Achtung, Déjà-vu! - um den Regierungshaushalt. Der sprunghafte Anstieg der Arbeitssuchenden hatte die Kassen der Arbeitslosenversicherung geleert, weshalb die SPD den Versicherungsbeitrag von dreieinhalb auf vier Prozent anheben wollte. Das Unternehmerlager hinter Scholz - der nach Stresemanns Tod im Oktober 1929 die Führung der DVP übernommen hatte - verlangte stattdessen Steuersenkungen. Anfang März einigte sich das Kabinett auf einen Kompromiss, dem auch der DVP-Finanzminister Moldenhauer zustimmte: Der Versicherungsbeitrag sollte steigen, im Gegenzug wollten die Sozialdemokraten ein Sparprogramm mittragen. Doch Scholz stellte sich quer, die Reichstagsfraktion der DVP lehnte den Kompromiss ab. Den letzten Vorstoß zur Rettung der Koalition unternahm der Fraktionsvorsitzende der Zentrumspartei, Heinrich Brüning: Er schlug vor, die Debatte um die Arbeitslosenversicherung in den Herbst zu verschieben und bis dahin die Staatsfinanzen zu sanieren.
Jetzt war die SPD am Zug. Sie lehnte den Vorschlag ab. Am 27. März trat die Regierung Müller zurück. Vier Tage später wurde Brüning von Reichspräsident Hindenburg zum Kanzler eines Expertenkabinetts ernannt, das im Reichstag über keine eigene Mehrheit mehr verfügte und mithilfe von Notverordnungen Politik machen musste. Bei den Wahlen im Juli 1930 wurden die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei. Die Weimarer Republik taumelte ihrem Untergang entgegen.
Wenn der Kampf um die erste deutsche Demokratie "von einzelnen Entscheidungen in konkreten Situationen" abhing, wie Volker Ullrich in seinem Buch über die "Schicksalsstunden" von Weimar schreibt, hätte die Haushaltspolitik des DVP-Vorsitzenden Scholz im März 1933 weltgeschichtliche Bedeutung gehabt. Aber so weit will Ullrich dann doch nicht gehen. Auch Ernst Scholz handelte in einer Gemengelage, in der ganz unterschiedliche Akteure und Interessen den Gang der Ereignisse bestimmten. Einer dieser Akteure war der kaiserliche Feldmarschall Paul von Hindenburg, der im April 1925 als Nachfolger Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten gewählt worden war. Vor seinem Tod wollte Hindenburg, wie er seinem Umkreis anvertraute, die Verhältnisse in Deutschland "in Ordnung bringen". Die Weimarer Verfassung, die dem Präsidenten das Recht einräumte, das Parlament durch Notverordnungen auszuhebeln, gab ihm dazu die Mittel in die Hand.
Mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise nach dem "Schwarzen Freitag" wurde deshalb die Frage, wer Hindenburgs Vertrauen genoss, zum entscheidenden Faktor der Politik. Die Spätphase der Weimarer Republik war ein Karussell von Intrigen und Lobbygruppen, das sich um den greisen Hindenburg drehte. Eine dieser Gruppen traf sich an Weihnachten 1929 in einer Charlottenburger Offizierswohnung, um den Sturz der regierenden Koalition vorzubereiten. Zu ihr gehörten neben Hindenburgs Büroleiter Meissner und Reichswehrminister Groener auch Heinrich Brüning und Kurt von Schleicher - der erste und der letzte Kanzler jener "Präsidialkabinette", die der Machtübergabe an Hitler im Januar 1933 den Weg bereiteten. Auch hier schleifte der Mantel der Geschichte durch den Raum. Und auch hier hätte, wie Volker Ullrich zeigt, alles noch ganz anders kommen können.
Die Spannung zwischen strukturellen und persönlichen Einflüssen prägt jede Darstellung der Weimarer Republik von Karl-Dietrich Bracher (dem Ullrich im Nachwort seine Reverenz erweist) bis zu Heinrich August Winkler (den er ausgiebig zitiert). Aber bei Volker Ullrich wird sie eklatant, weil er die Geschichte der gescheiterten Demokratie nicht als Kontinuum, sondern als Folge historischer Wegmarken erzählt: die Novemberrevolution, der Kapp-Putsch, die Ermordung Walther Rathenaus, die Hyperinflation, die Wahl Hindenburgs und so fort bis zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Durch diese gleichsam journalistische Perspektive treten andere, längerfristige Entwicklungen in den Hintergrund, etwa die wirtschaftliche Lage, die auch in der Erholungsphase zwischen 1924 und 1928 nie so günstig war, wie sie in vielen Rückschauen heute erscheint, oder die Frage der Reparationen, die zeitweise bis zu zwölf Prozent des Staatshaushalts ausmachten.
Dafür findet man, wie in fast jedem Buch des langjährigen "Zeit"-Redakteurs Ullrich, ausführliche und oft schlagende Zitate aus der zeitgenössischen Presse wie jenes des "Berliner Tageblatt"-Chefredakteurs Theodor Wolff, der schon am ersten Jahrestag der Revolution von 1918 prophezeite, "ein in langer monarchischer Tradition geschultes, mit starren Anschauungen vollgepfropftes Volk" werde sich nicht einfach, "wie in dem Märchen, aus einem Bären in einen Bräutigam verwandeln". Und man trifft neben der lakonischen Bemerkung Kafkas über Rathenau ("unbegreiflich, dass man ihn so lange leben ließ") immer wieder auf Verse von Tucholsky, die die historische Situation schlaglichtartig erhellen: "Hierzulande löst die soziale Frage / ein Leutnant, zehn Mann. Pazifist ist der Hund? / Schießt ihm nicht erst die Knochen wund! / Die Kugel ins Herz! Und die Dienststellen logen: / Er hat sich seiner Verhaftung entzogen. / Leitartikel. Dementi. Geschrei. / Und in vierzehn Tagen ist alles vorbei."
Ein einziges Kapitel fällt aus der zeitlichen Staffelung heraus, und mit ihm gewinnt Ullrichs Buch sofort aktuelle Schärfe. Es geht um die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP im Reichsland Thüringen von Januar 1930 an. Der feste Wille des Landbunds, der die Bauern vertrat, und des bürgerlichen Parteilagers aus DVP - hier kommt wieder deren Vorsitzender Ernst Scholz ins Spiel - und DNVP, die Sozialdemokraten von der Macht fernzuhalten, brachte die Nationalsozialisten an den Kabinettstisch, und Hitler setzte seinen altgedienten Parteisoldaten Wilhelm Frick als Innen- und Bildungsminister durch.
Dieser machte sich sofort daran, seinen Amtsbereich von politischen Gegnern zu säubern. Unter dem Vorwand von Sparmaßnahmen wurden massenweise republiktreue Beamte (vor allem Polizisten und Lehrer) kaltgestellt oder entlassen. Im Gegenzug berief Frick den völkischen Architekten und Kunstkritiker Paul Schulze-Naumburg als Leiter der Weimarer Kunstlehranstalten und den Rassentheoretiker Franz F. K. Günther auf einen eigens geschaffenen Lehrstuhl der Universität Jena. Ein Erlass "Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum" und ein Verbot von Remarques Kriegsroman "Im Westen nichts Neues" flankierten das kulturpolitische Schlachtfest. Nach vierzehn Monaten endete der Spuk durch einen Misstrauensantrag der SPD. Heute hört man in Fricks Marschtritten die Nachtigall der AfD trapsen. Es fehlt nur noch die passende politische Gelegenheit - und die Schützenhilfe von Leuten wie Ernst Scholz.
Wer ein Buch von Volker Ullrich in die Hand nimmt, kann sich darauf verlassen, dass er ohne falschen Jargon und gelehrte Weitschweifigkeiten über historische Zusammenhänge aufgeklärt wird, und so ist es auch hier. Viele seiner Formulierungen treffen den Nagel auf den Kopf, so wenn er schreibt, dass Hitler beim Industriellentreffen in Bad Harzburg "wie eine Primadonna" aufgetreten sei, weil er nicht riskieren konnte, bei seinen Parteifreunden als Freund des Großkapitals zu erscheinen. Wenn man dem Autor dennoch einen Vorwurf machen muss, ist es der, dass er die zentrale und im Untertitel benannte These seines Buches, die Vermeidbarkeit des Scheiterns der Weimarer Demokratie, nicht konsequent genug diskutiert. Wenn die KPD mit ihrem Kandidaten Thälmann bei der Reichspräsidentenwahl von 1925 nicht den Sieg des Zentrumspolitikers Wilhelm Marx verhindert, wenn die DVP nicht den Kabinettskompromiss von 1930 torpediert und wenn Hindenburg zwei Jahre später die Regierung Brüning nicht entlassen, sondern weiterhin durch Notverordnungen gestützt hätte - dann wäre die deutsche Geschichte womöglich ganz anders verlaufen. Aber im historischen Ergebnis liegt eben auch ein Urteil über die Kräfte, die es herbeigeführt haben. So dürfte es auch der Berliner Republik irgendwann ergehen. Man kann nur hoffen, dass der Spruch der Geschichte dann günstiger ausfällt. ANDREAS KILB
Volker Ullrich: "Schicksalsstunden einer Demokratie". Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik
C. H. Beck Verlag, München 2024. 383 S., Abb., geb.
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