Besprechung vom 23.01.2022
Ein paar Popper in Auschwitz
Yasmina Rezas grandioser neuer Roman "Serge" erzählt von einer Familie, die sich auf eine Reise zu ihrer eigenen Geschichte macht
Es gibt eine alte Geschichte von Woody Allen, eine Krimisatire zum Mitraten, "Knobeleien mit Inspektor Ford" heißt sie: Da schreibt ein Sohn namens Kermit Kroll seinen Eltern einen Brief, er sei von zwei Männern entführt worden, das Essen sei zwar gut und er sei auch gut untergebracht, aber wenn die Eltern nicht bald fünfzigtausend Dollar unter eine Brücke an der Decatur Street legen würden, dann würde der Mann, der ihm das Bett macht, ihn erdrosseln. "PS: Das ist kein Scherz. Ich lege einen Scherz bei, da könnt ihr den Unterschied sehen."
So ist das auch mit dem neuen Roman von Yasmina Reza, "Serge". Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. "Serge" zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten, wie es nur der Roman kann. Das Medium des Widersprüchlichen. Eine Kunstform, die Unvereinbares miteinander vereinbart zu einem Schwebezustand, der dann dem Leben ähnelt, aber nicht das Leben ist.
"Serge" ist natürlich nicht der erste Roman der weltberühmten Dramatikerin Yasmina Reza ("Der Gott des Gemetzels"). Man könnte sagen, dass ihre Romane (wie die Dramen), so gut sie auch sind, immer einer erfolgversprechenden Formel gefolgt sind: Ein paar Leute aus Paris, alle nicht auf den Mund gefallen, mit unausgeglichenem Seelenhaushalt und unstillbarem Paarungswillen, ringen mit den Erscheinungen der Gegenwart, durch die sie steuern. Aber solange dabei Bücher wie "Serge" herauskommen, ist gegen eine solche Formel ja gar nichts einzuwenden. Yasmina Reza hat eine Form der Gesellschaftsgeschichtsschreibung perfektioniert, die zugleich unterhält und wahnsinnig macht, weil so viel geredet wird, aber diese Dialoge alle so klingen wie etwas, das man selbst einmal erlebt hat. Gesagt hat, gebrüllt hat.
"Serge" erzählt aus dem Leben der Geschwister Popper, drei Kinder von Holocaust-Überlebenden: Der Vater stammt aus Wien, die Mutter aus Budapest, beide sind sie in hohem Alter gestorben, erst der Vater, dann die Mutter - und jetzt müssen Nana, Jean und Serge Popper sehen, wie sie mit dem Zufall (oder auch: dem Schicksal) klarkommen, miteinander verwandt zu sein und selbst auch älter zu werden.
Serge ist Unternehmer mit großen Ansprüchen, aber zweifelhaftem Erfolg, Nana ist mit Ramos verheiratet, den ihre beiden Brüder für einen Trottel halten, was Nana genau weiß, ihr Sohn Victor wiederum will Chefkoch werden. Jean, der Erzähler des Buchs, ist Experte für Materialleitfähigkeit, arbeitet seit Jahren für das gleiche Unternehmen, er ist ein solider, etwas langweiliger Mann, der noch immer mit dem kleinen Sohn seiner Exfreundin in die Badeanstalt geht, auch wenn diese Ex längst einen Neuen hat. Der Ort der Handlung ist Paris, wenn auch die Straßennamen nicht immer ganz stimmen, die Zeit ist heute, es ist ein Milieu selbstverständlicher Weltläufigkeit, Wein, Käse, Wohnungen, es ist der Ton einer sich selbst nicht infrage stellenden Bürgerlichkeit, während ringsherum die Gewissheiten zerfallen, Paris unbewohnbar teuer wird.
"Serge" ist aber eben auch: die Geschichte einer jüdischen Familie. Und sie trägt autobiographische Züge ihrer Autorin, Tochter jüdischer Einwanderer, die in Frankreich ganz neu begannen und das, was hinter ihnen lag, dort liegen ließen.
Familiäre Vergangenheiten und wie sie weiterleben, ignoriert, aufbewahrt oder umgedichtet werden von den Nachgeborenen: Das ist das zentrale Thema dieses neuen Romans. "Unsere Eltern sind dahingegangen", sagt Jean einmal, "und haben uns nicht mehr hinterlassen als Fragmente, womöglich erdichtete biographische Restbestände, man kann kaum behaupten, dass wir uns für ihre Saga interessiert hätten." Das Thema scheint auch deswegen am deutlichsten auf, weil Reza die Geschwister eine Reise machen lässt. Und in der Tradition des Romans ist so eine Reise immer schon ein klassisches Motiv zur Überwindung oder Zuspitzung von Konflikten gewesen, danach geht es wie verwandelt weiter. Die komischen, traurigen Heldinnen und Helden dieses Romans von Yasmina Reza führt ihre Reise nach - Auschwitz.
Joséphine, Serges Tochter, Anfang zwanzig, war auf diese Idee gekommen. "Und als wär's beim Kegeln", sagt Jean, "reißt sie uns mit, dieses geschichtsvergessene, ungezwungene Trio aus ihrem Vater, ihrer Tante und ihrem Onkel", reißt die drei mit zu den Gräbern ihrer ungarischen Verwandten, an den Ort, wo sie von den Deutschen umgebracht wurden. "Menschen", wie Jean es sagt, "die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort 'Gedenken' berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen."
Es ist April. Und in Auschwitz, liest Joséphine vor Abfahrt von ihrem Handy ab, sind es schon 25 Grad. "Ich habe ganz falsch gepackt", antwortet Nana. Dann stolpern die jungen und alten Poppers über das Gelände des Konzentrationslagers. "Ist dir nicht heiß, Papachen, in deinem Anzug?", fragte Joséphine. "Doch, doch", sagt Serge. "Aber in Auschwitz werde ich mich nicht beklagen." An einem Computerterminal geben die Poppers dann Namen ein, "es ist ein Spiel", sagt Jean. "Auch ich suche Namen, Namen französischer Juden. Ich finde welche. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es diejenigen sind, die ich kenne. Fast bin ich enttäuscht." Dann sieht er eine Gruppe Israelis, sie ziehen mit Tüten von Zara und H&M vorbei.
Immer wieder kollidieren die Zeitverhältnisse und Lebenswelten so miteinander, der Alltag im 21. Jahrhundert und ein Verbrechen historisch unvergleichlicher Schwere. Das ist tragisch, trotzdem komisch - aber es zeigt vor allem die Kunst der Erzählerin Yasmina Reza, dass sie daraus zwar Pointen macht, die aber nie aufs Konto der Beteiligten gehen. Es ist so, so ist das: Auschwitz ist der Schauplatz sorgfältig konservierter Originalzeugnisse (Kratzspuren an den Wänden der Gaskammern, Haare) und zugleich eine Kulisse für Nachgeborene mit Wetter-App. Eine Kulisse, die ebenso sorgfältig nachgebaut und instand gehalten werden muss, allgegenwärtige Reihen von Pappeln, gepflegte Planquadrate, "eine Parzelle der Vorhölle, neu arrangiert für die Zeitgenossen. Eine noble Geste, die einlullt."
In Auschwitz, wohin er nie wollte, erkennt Jean das Auseinanderklaffen seiner Familie. Da ist die Generation, die floh oder ermordet worden ist, dann deren Kinder, die nach Krieg und Holocaust nur nach vorn schauen wollten und die, wie die Mutter der Poppers, kein Opfer sein wollten. Auf diese Kinder wiederum folgen deren Kinder, Serge, Jean, Nana, die ihre Eltern auch nie gefragt haben, was war, aber jetzt wiederum von den eigenen Kindern dazu gebracht werden, sich doch bitte endlich der Familiengeschichte zu stellen, aber damit vor der grotesken Tatsache landen, dass Auschwitz, wie die anderen historischen Gedenkstätten dieses Verbrechens, im 21. Jahrhundert ein Konzentrationslager mit gepflegten Grünflächen ist.
Und auf zwei polnischen Parkbänken zerstreiten sich Serge und Nana dort dann darüber, dass Serge seinen Neffen Victor unterstützen (dominieren) wollte und Victor den Onkel daraufhin beleidigte (auf seinen Platz verwies). Es geht um einen Praktikumsplatz in einem guten Restaurant und darum, dass Nana es nicht erträgt, wie ihre beiden Brüder über ihren Mann denken. Und Jean, der Bruder zwischen allen Bänken, hört sich erst die eine, dann die andere Version der Geschichte an, neigt aber am Ende doch ("Ich bin immer Serge gefolgt") seinem Bruder zu. Ein paar Wochen später, zurück in Paris, treffen sich die Geschwister dann wieder, im Krankenhaus, da ist was mit der Lunge von Serge. Und vielleicht beginnt die eigentliche Verwandlung der drei Poppers erst hier, zurückgekehrt von einer Reise in ihre Familiengeschichte, die Weltgeschichte ist.
Wie gut dieser neue Roman von Yasmina Reza ist, das beginnt schon damit, wie sich Form und Inhalt entsprechen, wie Reza das eine im anderen spiegelt und damit verstärkt: Denn so, wie in jeder Familie die Perspektive auf das, was diese Familie angeblich sein soll, ständig wandert und die Deutungshoheit über Vergangenheit und Gegenwart der Familie immer umkämpft bleibt: So hat auch dieser Roman keine Mitte, bleibt immer in Bewegung.
Jean, der mittlere Popper, erzählt ihn zwar, wirkt dabei aber oft auch nur wie ein Passant. Er ist nicht die Hauptfigur seiner eigenen Erzählung, aber die ist auch eigentlich nicht sein Bruder Serge, selbst wenn der Roman dessen Namen trägt. Und dieser Serge treibt die Ereignisse voran, weil er ein ziemliches Ekel ist, der starke Meinungen darüber hat, wie seine Schwester Nana und deren Sohn Victor leben sollten. Serge, der sich selbst aber in Wehleidigkeit wälzt, sobald die Dinge für ihn nicht mehr so laufen, weil er mal wieder eine Frau betrogen hat, die ihn liebt und die ihn rauswirft.
Aber vielleicht trägt dieser Roman ja deshalb seinen Namen, weil Serge seine Autonomie auch dann wahrt, wenn er Fehler begeht. Es sind lebendige, unlangweilige Fehler, Serge ist kein aufgeräumter Typ, eigentlich ist er unerträglich, aber eben auch ziemlich interessant dabei, er ist vital und verlogen, ist wie ein Roman, gleichzeitig alles Mögliche, zusammengehalten vom Wunsch, dass sich am Ende doch alles irgendwie zusammenreimt. Aber das tut es nicht, und die Kunst ist, damit leben zu lernen. Damit, was man erbt und nicht haben will und doch weitergibt. "Serge" ist ein Identitätsroman ohne Posen.
Die Kurzgeschichte von Woody Allen ging übrigens so aus, dass Kermit Kroll sich selbst entführt hat. Inspektor Ford kam deswegen drauf, weil Kermit zwar noch bei seinen Eltern wohnt, er aber sechzig und seine Eltern achtzig sind und Kindesentführungen in dem Alter unlogisch sind. Doch wie Yasmina Rezas grandioser Roman zeigt, kann man gar nicht alt genug werden, um doch ein Kind zu bleiben. TOBIAS RÜTHER.
Yasmina Reza, "Serge". Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, 208 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.