Besprechung vom 14.01.2021
Kinderbesuch in Auschwitz
Erstmal die richtige Aussprache lernen: Yasmina Rezas neuer Roman beschreibt den Gedenktourismus als absurdes Theater.
Von Jürg Altwegg, Genf
Sie schreibt so virtuos, dass sie sich alles erlauben kann", schwärmt das französische Nachrichtenmagazins "L'Obs" von Yasmina Rezas neuem Roman "Serge" und verklärt die Schriftstellerin zur "Göttin des Gemetzels" - eine Anspielung auf ihr Erfolgstheaterstück "Gott des Gemetzels", das von Roman Polanski verfilmt wurde. Seit ihrem Bühnenklassiker "Kunst" gehört Reza weltweit zu den meistgespielten Bühnenautoren.
Von "Gemetzel" zu sprechen mutet indes geschmacklos an, denn das Thema von "Serge" ist Auschwitz, Höhepunkt der Handlung die Beschreibung eines Besuchs in dem Vernichtungslager. Doch es geht Yasmina Reza nicht um die Schoa selbst, sondern um den Kult der Erinnerung, den sie im Roman ad absurdum führt. Ein permanentes Gemetzel ist das darin geschilderte Familienleben.
"In ihren Dramen und Romanen steckt immer ein Stück Subversion, doch so weit wie jetzt ist sie noch nie gegangen", staunt das Magazin "Le Point", und die "Göttin des Gemetzels" wird ihm zum "Jacques Derrida der Literatur": Ihre "Dekonstruktion" zerstückele alles. Nichts sei ihr heilig: "Sie respektiert weder die Familie noch die Ehe, weder die Frauen noch den Krebs. Und, oh Sakrileg, nicht einmal den Auschwitz-Tourismus."
Yasmina Reza erzählt die Geschichte der Geschwister Popper, sie sind alle so um die sechzig. Serge, der Älteste, ist ein ziemlicher Versager, der als Consultant arbeitet. Beruflich ein Schaumschläger, privat ein Hallodri. Gerade hat ihn seine letzte von vielen Freundinnen rausgeworfen, er betrog sie mit einem "Immobilien-Luder". Serges jüngere Schwester Anna ist eine vom Vater verwöhnte Zicke, aber in stabilen Verhältnissen mit einem Spanier namens Ramos verheiratet. Zwischen ihnen kommt noch der farblose Jean, alleinstehend, immer im Schatten seines Bruders Serge. Jean ist der Ich-Erzähler des Buchs: "Für mich interessierte sich der Vater nicht. Ich war der brave Bub, der keine Schwierigkeiten macht."
Reza konzipiert ihre Familie wie aus dem Kuriositätenkabinett
Vom Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg war zu Hause nie die Rede, "man kann aber auch nicht sagen, dass wir Kinder uns dafür interessiert hätten". Hingegen frönt der cholerische und brutale Vater einer grenzenlosen Leidenschaft für Israel. Er bewunderte "die Gärten, die in der Wüste blühen", und ein "von der Intelligenz geleitetes Volk". Die Präsidenten De Gaulle und Pompidou hasste er wegen deren proarabischer Politik. Kritiker Israels, "der einzigen Demokratie in der Region", hält er für Antisemiten. Auch seine Frau, die von Israel nichts wissen wollte: "Hört nicht auf eure Mutter. Juden sind die schlimmsten Antisemiten." Sie hatte ungarische Vorfahren, die in Auschwitz umgekommen waren. Die Poppers wiederum stammten aus Wien und hatten "einen Fuß in der Avantgarde, den anderen in der Synagoge". Praktizierende Juden gibt es in beiden Familien keine mehr.
Der Roman beginnt mit dem Tod der Mutter - den Reza zur Komödie macht. Und der Leser lacht tatsächlich. "LCI" lautete ihr letztes Wort. Der Nachrichtensender LCI übertrug, während sie starb, die Trauerfeier für die Opfer eines Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt. Gegen ihren Willen wird die Mutter im Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Immerhin hat man sie ihrem Wunsch gemäß kremiert - was wiederum ihre Enkelin Joséphine, die Tochter von Serge, empört: "Wie kann sich eine Jüdin verbrennen lassen!" Nach dem Begräbnis verkündet Joséphine, dass sie dieses Jahr nach "Osvitz" fahren wolle. "Auschwitz", schreit sie der Vater an: "Du redest wie ein Goy. Lern erst einmal die richtige Aussprache: Auschwitz! Auschhhhhwitz!"
Seit dem Tod der Mutter "läuft im Leben der Familie Popper alles aus dem Ruder". Die Geschwister sind "sehr verschieden und haben wenig Zusammengehörigkeitsgefühl". Aber die Reise nach Auschwitz unternehmen sie zusammen. Von Krakau aus fahren sie mit dem Auto. Dem Navigationssystem ist Auschwitz nicht bekannt: "O-s-w-i-e-c-i-m" - "Fahr Richtung Kattowitz." - "Ich kann lesen."
Die Desillusionierung am Gedenkort ist anders als gedacht
Auschwitz ist der Ort mit den meisten Blumen, den die Geschwister Popper je gesehen haben. Obwohl sie im Internet Tickets für einen Eintritt ohne Wartezeit reserviert hatten, müssen sie Schlange stehen: Die anderen waren genauso schlau. "Die meisten Männer tragen Shorts, die Frauen auch." Serge verspürt Platzangst. An einem Computer im Lager geben sie die Namen von Verwandten und Bekannten ein, werden aber nicht fündig. Die bestens vorbereitete Joséphine übernimmt die Führung: Buchhandlung, Gaskammer, Krematorium, Museum, sie lassen nichts aus. Es wird gestritten und geschrien, die familiären Konflikte flammen auf. Für die Geschwister Popper schlägt die Stunde der Abrechnung. Serge, der einen Anzug trägt, schwitzt, "aber in Auschwitz will ich nicht klagen". Vor der Erschießungsmauer fürchtet er einen Herzinfarkt.
Mit dem Auto geht es weiter - auch mit dem Streit - und an Wohnhäusern vorbei. "Warum kommen keine Besucher bis hierher?" Serge kann und will nicht mehr. Sie halten an: "Aussteigen, Papa, wir sind an der Judenrampe." Mit allen Kräften versucht seine Tochter Joséphine, die ständig mit dem Handy fotografiert, ihn aus dem Wagen zu zerren - vergeblich. "500 000 Deportierte sind hier angekommen!" - "Das ist mir scheißegal." - "Es ist der schlimmste Ort der Welt, Papa!"
Jean notiert: "Wie oft werden sie noch grauenhaft, unsagbar undsoweiter sagen?" Die Idee des Besuchs sei doch gewesen, im Sinne des Zeitgeists dem Imperativ des Erinnerns zu huldigen: "Das Grab unserer ungarischen Verwandten zu besuchen. Von Menschen, die wir nie gekannt und von denen wir nie etwas gehört haben. Und deren Unglück auch das Leben unserer Mutter offenbar nicht erschüttert hatte."
In der weitverzweigten jüdischen Familie der 1959 geborenen Yasmina Reza wurde ebenfalls nicht über die Schoa gesprochen. In Interviews zum Roman erklärt sie, wie sehr sie und ihre Geschwister es bereut hätten, dass sie den Eltern keine Fragen stellten. Sie glaube nicht an ein Erinnern ohne emotionalen Bezug. Das wird in "Serge", in dem sie ihr ganzes Können bei Szenen und Dialogen entfaltet, mehrfach gesagt und gezeigt. Sie schildert Auschwitz als touristisches Ritual. Mit einer Freiheit, die gegenwärtig wenige Bücher auszeichnet, spielt sie souverän mit den gefährlichsten Klischees, wenn es auch ihren Figuren an Introspektion und ein bisschen an Tiefgang mangelt.
"Le Point" hat das Buch mit Balzacs "Comédie humaine" verglichen: Weil es seinem Ansatz nach "die gesamte Gesellschaft" umfasse. In Frankreich, das sich gerade in einem Taumel des Erinnerns befindet, wird es von den Kritikern als Offenbarung gelesen und geradezu als Erlösung zelebriert. In der Darstellung der Schoa stellt es zweifellos einen Meilenstein dar, wie Art Spiegelmans Comic "Maus" und Roberto Benignis Spielfilm "Das Leben ist schön". Der Literatur eröffnet "Serge" jetzt, "da sich die Überlebenden der Hölle zu ihren Toten gesellen" (so heißt es im Roman), neue Wege des Umgangs mit Auschwitz.
Am Schluss der Geschichte ist Serge an Krebs erkrankt. Sein Bruder und seine Schwester treffen sich am Krankenbett. "Das letzte Mal waren wir in Auschwitz zusammen. Wir werden immer die Popper-Kinder bleiben."
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