Das Besondere ist Trumpf, das Einzigartige wird prämiert, eher reizlos ist das Allgemeine und Standardisierte. Der Durchschnittsmensch mit seinem Durchschnittsleben steht unter Konformitätsverdacht. Das neue Maß der Dinge sind die authentischen Subjekte mit originellen Interessen und kuratierter Biografie, aber auch die unverwechselbaren Güter und Events, Communities und Städte. Spätmoderne Gesellschaften feiern das Singuläre.
In seinem preisgekrönten soziologischen Bestseller untersucht Andreas Reckwitz den Prozess der Singularisierung, wie er sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Ökonomie, Arbeitswelt, digitaler Technologie, Lebensstilen und Politik abspielt. Mit dem Anspruch einer Theorie der Moderne zeigt er, wie eng dieser Prozess mit der Kulturalisierung des Sozialen verwoben ist, welch widersprüchliche Dynamik er aufweist und worin seine Kehrseite besteht. Die Gesellschaft der Singularitäten kennt nämlich nicht nur strahlende Sieger. Sie produziert auch ihre ganz eigenen Ungleichheiten, Paradoxien und Verlierer. Eines der meistdiskutierten Bücher der letzten Jahre.
Besprechung vom 23.06.2021
Der Hipster als politische Lebensform
Neue Klassenlage? Andreas Reckwitz verteidigt sein Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" gegen Fachkritik
Kaum ein Buch hat in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit erfahren wie die "Gesellschaft der Singularitäten" von Andreas Reckwitz. Der Soziologe beschreibt darin den globalen Aufstieg einer neuen, um kulturelle Werte wie Kreativität und Authentizität gruppierten Mittelklasse, die einer traditionsbehafteten Mittelklasse die Deutungsmacht entrissen habe. Entlang dieser Bruchlinie erklärt er globale Verwerfungen wie den Aufstieg des Rechtspopulismus und den Niedergang der Sozialdemokratie ebenso wie jene Kulturkämpfe, die mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus behelfsweise umschrieben sind.
In Medien gefeiert, wurde die breit angelegte Zeitdiagnose in der Soziologie eher ungnädig aufgenommen. Reckwitz wurde vorgehalten, zu wenig darüber zu sagen, wie das neue kulturelle Kapital für Macht- und Positionskämpfe verwendet wird. Es wurde auch generell in Zweifel gezogen, ob es die neue Mittelklasse überhaupt gebe oder ob sie nur das zum gesellschaftlichen Leitbild aufgebauschte Porträt des urbanen Hipstertums sei. Damit stand die Frage im Raum, wie die neuen Kulturkämpfe anders zu erklären sind, wenn man sie nicht als Scheingegensätze abtun will.
Die Zeitschrift Leviathan widmet dieser Debatte gleich zwei Ausgaben (Jahrgang 49, 2021, Heft 1 und 2). Zunächst erneuern Nils Kumkar und Uwe Schimank die Fachkritik. Auf der Basis eigener empirischer Forschung kommen sie zu dem Ergebnis, dass die neue Mittelklasse, was Werte und Einkommen betrifft, gar nicht so viel anders als die alte Mittelklasse sei. Beiden gehe es um Statuspflege und Statuserhalt. Außerdem kritisieren Kumkar und Schimank, dass Reckwitz die neue Mittelklasse so umstandslos mit dem Akademikermilieu gleichsetzt. Wären dann nicht auch Berufe wie Betriebswirt, Jurist oder Apotheker der neuen Mittelklasse zuzurechnen, die gemessen am neuen Kreativstandard unspektakulär sind? Die Autoren sehen sich veranlasst, den neuen Klassengegensatz zu entdramatisieren. Aber wie sind die durchaus realen Kulturkämpfe der Gegenwart dann zu erklären?
In seiner Replik hält Reckwitz seinen Kritikern vor, den allgemeinen Strukturwandel zu vernachlässigen. Dieser könne an Begriffen wie kognitiv-kultureller Kapitalismus oder Deindustrialisierung festgemacht werden und habe einen weltweiten Wertewandel bewirkt. Seit den Siebziger-, Achtzigerjahren zeichneten die Sinus-Studien deutlich den Aufstieg von Werten wie Diversität, Weltoffenheit, Selbstverwirklichung nach. Dieser "expressiver Individualismus" genannte Lebensstil habe über alle inneren Unterschiede hinweg eine Trägerschicht, folgert Reckwitz. Deutlich werde in den Studien auch die wachsende Kluft zu einer traditionellen Mittelschicht, die an Pflichtethik und Werten wie Ordnung und Sicherheit festhalte. Völlig unterschiedlich sei man deshalb nicht. Statuspflege betrieben beide Milieus. Die neue Mittelklasse passt sich dem Strukturwandel nur besser an, während die alte Mittelklasse ihn abwehrt. Über Fragen des Lebensstils hinaus geht es auch um die Einstellung gegenüber einer von Technik und Ökonomie getriebenen Form der Modernität.
Die Dauerkritik seiner Fachkollegen geht Reckwitz sichtlich auf die Nerven. Woher, fragt er zurück, kommt eigentlich die Verdachtshaltung gegenüber seinem Buch? Liegt es an dem Beharren der Fachvertreter, dass Werte eine feste Trägerschicht und einen materiellen Gegenwert haben müssen? Dass man der Kultur kein Eigengewicht zugesteht?
Diese Frage stellt sich Reckwitz aber auch selbst. Denn sein Kulturbegriff ist derart konturlos, dass dort noch die ödeste Projektroutine als schöpferische Tätigkeit unterkommt. Zwar erwähnt er am Rande, dass über allen Maximen der Selbstverwirklichung die rationale Logik der Industriegesellschaft weiter gelte. Die "Singularitäten" sind also nur Surrogate der reklamierten Individualität und Echtheit. Trotzdem führt Reckwitz nur die eine Seite aus. Was heißt das für die damit verbundenen politischen Haltungen? Sind die Bekundungen von Weltoffenheit und Vielfalt nur taktische Manöver im Kampf um Status und Stellen? Dienen sie sogar dazu, politische Konflikte von sich fernzuhalten und sich ungestört der Verfeinerung des Lebensstils widmen zu können, wie Sahra Wagenknecht in ihrem Buch über die "Lifestyle"-Linke kritisiert hat?
Patrick Sachweh kritisiert im zweiten Leviathan-Heft, Reckwitz verlasse sich bei der Klassenanalyse ganz auf die privatwirtschaftliche Sinus-Studie, die ihre Kriterien nicht offenlege. Tatsächlich übernimmt die Sinus-Studie weitgehend unkritisch die Selbstbeschreibung der Milieus, ohne zu fragen, wie diese mit dem materiellen Status und dem realen Verhalten korrespondiert. Wenn beispielsweise Grünen-Wähler nach einer Studie des Umweltbundesamtes (F.A.Z. vom 16. Februar 2019) zu den ausgewiesenen Vielfliegern gehören, kann man sich fragen, ob man es hier wirklich mit einer postmaterialistischen Klientel zu tun hat. Ähnliches gilt für AfD-Wähler, deren kultureller Traditionalismus mit der wirtschaftsliberalen Orientierung der Partei kollidiert.
Eingebunden in den allgemeinen Strukturwandel, fällt es beiden Fraktionen der Mittelschicht schwer, ihre Werte mit Inhalt zu füllen. Der Traditionalist muss den Gemeinsinn gegen fortschreitende Individualisierung behaupten. Der neuen Mittelklasse stellt sich die Frage, ob ein Lebensstil kreativ und authentisch ist, der auf den kollektivierenden Mechanismen der Digitalökonomie fußt.
Man findet bei Reckwitz zwar eine leise Distanz gegenüber der Selbstdarstellung der Singularitäten. Wer eine neue Klassenlage ausruft, bewegt sich aber auf dünnem Eis, wenn er sie allein an Selbstbildern festmacht. Reckwitz räumt ein, dass die materiellen Hintergründe der neuen Akademikerklasse noch kaum erforscht sind. Damit steht aus, ob sie überhaupt eine sinnvolle Analyseeinheit ist. Der Blick hinter die Kulissen wird der Kultursoziologie sicher nicht schaden. THOMAS THIEL
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