Besprechung vom 22.03.2022
Die Konstituierung Europas
Die Geschichte der Agentur Frontex: Integration nach innen - Abgrenzung nach außen
In der Europakrise und verstärkt 2020 in der Corona-Pandemie wurden die offenen Grenzen im Schengenraum infrage gestellt. Das Abkommen von Schengen regelt seit 1993 den europäischen Binnenmarkt und vor allem den freien Grenzverkehr nach innen. Als Folge dieser Integration entstand aber auch eine stärkere Abgrenzung nach außen, so die These von Bernd Kasparek in seiner soziologischen Aufarbeitung der europäischen Grenzentwicklung. Der Autor ist Aktivist und Politikwissenschaftler, der seine Methode ethnographisch teilnehmende Beobachtung nennt. Seine Kernthesen formiert er entlang der Kapitel Netzwerk, Grenze, Agentur, Risiko, Operation, Hotspot.
Kasparek begann seine Forschungsreise über die Entstehung des Schengenabkommens, die er 'Genealogie' nennt, lange vor den Ereignissen seit 2015, den sterbenden Flüchtlingen, des Brexits, der Aussetzung des freien Reiseverkehrs 2020. Er wollte verstehen, wie es durch "kontingente, aber rekonstruierbare" Abläufe überhaupt zu diesem "epochalen Ereignis" eines solch weitreichenden Zusammenschlusses kommen konnte. Dabei geht es ihm hauptsächlich um Bildung und Weiterentwicklung der Agentur Frontex und wie sie seit 2004 Politik mitbestimmte.
Technische Betrachtungen wechseln sich ab mit Schilderungen über eigene Feldforschung im Rahmen des Aktivismus des Autors. Kasparek nahm an den Grenz- und No-Border-Camps der Nullerjahre teil, war häufig auf Lesbos, um gegen die Internierungslager zu protestieren. Aus seiner aktivistischen Arbeit entnimmt Kasparek einerseits das Argument, dass die Agentur als Symbol für repressive Politik deutlich überhöht worden ist - wenn die Verantwortung für die Misere der Flüchtlingspolitik doch hauptsächlich in Brüssel gelegen habe. Andererseits war genau dieser Agentur diese Macht tatsächlich durch die politischen Akteure zugesprochen worden.
Zwei Schlussfolgerungen zieht er: Es gibt erstens eine enge Kopplung zwischen (innerer) Grenz- und Migrationspolitik in der EU, denn je freier und offener die Grenzen im Inneren waren, desto mehr schirmte sich der Kontinent nach außen ab. Und zweitens wurde durch Schengen, also die Integration nach innen, die europäische Außengrenze als Phänomen und Kontrollmechanismus überhaupt erst geboren, ein Prozess, der sich allmählich seit 1975 vollzog. In der stark durch Foucault inspirierten Sprache Kaspareks heißt das: "Die europäische Außengrenze à la Schengen (. . .) konstituiert sich ins Innere als Raum, der nun denkbar, erfassbar und damit regierbar wird." Sie war zunächst kein Ziel an sich, sondern wurde erstmals 1989 als "Interventionsfeld" erwähnt und 2009 im Lissabonner Vertrag in der gemeinsamen Migrations- und Grenzpolitik vergemeinschaftet. Doing border doing Europe sieht die Grenze als eine technologische wie politische Praxis an, die durch stetiges Agieren erst geschaffen wird und dadurch ultimativ den Kontinent konstituiert. Dabei hat die Außengrenze zwei Funktionen: Sie schafft eine geographische Territorialität Europas, aber bildet gleichzeitig einen Ort, der Wissen über Migration generiert und Kontrolle schafft. Letzteres ist in verschiedener Hinsicht problematisch, wie der Autor aufzeigt.
Unter Rückgriff auf ein mittlerweile sehr breites Forschungsfeld zu den vergangenen fünf Jahrzehnten europäischer Integration zeichnet er mit Fokus auf das 21. Jahrhundert akribisch die Diskurse und Vereinbarungen nach, die zur Grenze und ihrem Schutz in ihrer heutigen Form führten. Es wird deutlich, dass dieser Prozess kein linearer war, sondern durch eine Akkumulation von Krisen und permanenten Versuchen, diese zu lösen, entstanden ist. Dieses Ergebnis ist im Einklang mit zahlreichen jüngeren Forschungen.
Nachdem erst 1999 in Tampere der Europäische Rat die Außengrenze zu einer Technologie machte, um Migration zu steuern, wurde 2004 Frontex formal gegründet. Diese Gründung war ein Kulminationspunkt einer lange mäandernden Politik, die EU nicht nur durch ihren Binnenmarkt, sondern auch durch Abgrenzung nach außen zu konstituieren. Sie stand zentral im Zusammenhang mit der ersten Runde der EU-Osterweiterung, durch die border management überhaupt erst zu einer Priorität europäischer Politik wurde. Auch wenn zunächst noch unklar war, wie viel Hoheit und Gestaltungsraum diese Agentur haben sollte, änderten sich damit die Epistemologie und der Diskurs rund um das Thema Sicherheit auf einschneidende Weise. Indem das Sichern der Grenzen einer nicht demokratisch legitimierten Institution übertragen wurde, blieb der Grenzraum bewusst apolitisch gekennzeichnet. Die rein technologische Sicherung der Grenzen wird im Rahmen des liberalen Ökonomismus als vermeintlich wertfrei, effizient, mit besserer Performance gegenüber "dem Politischen" gekennzeichnet.
Kasparek betont den inhärent politischen Charakter von Frontex. Diesen sieht er vor allem darin, dass die Hauptfunktion der Außengrenze die Regulierung von Flüchtlingsströmen war und ist; täglich werden Grundrechte von Menschen missachtet, die nur geringe Möglichkeiten haben, diese einzufordern. Ordnungsversuche wurden sowohl an Schreibtischen in Brüssel entworfen als auch im 'ständigen encounter' mit der "Mikropolitik" des Grenzschutzes vor Ort. Eines der größten Probleme sieht Kasparek im Mangel demokratischer Kontrolle: Die Agentur sollte vor allem die Langsamkeit europäischer Entscheidungen verhindern und für schnelles punktuelles Handeln sorgen. Frontex ist gegenüber dem europäischen Parlament nicht rechenschaftspflichtig. Da die Agentur aber auch zunächst nicht weisungsbefugt war, war sie umso mehr auf die Entwicklung von "Wissenspraktiken" angewiesen, die ihre Handlungen als ganz natürlich erscheinen lassen würden. Ein Diskurs, der Migration konsequent als Schwächung und Bedrohung für Europa wahrnimmt, bringt in der Folge auch als einzig plausible Option eine stetige Verschärfung der Grenze. Seit 2016 firmiert Frontex unter dem Namen Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache und erfuhr 2019 eine massive Budget-Ausweitung: Das Projekt europäischer Grenzschutz ist damit vorläufig vollendet, und die auf politischer Ebene weitgehend gescheiterte gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik in ihre Hände gelegt. Nach der Reform ist Frontex eine mit "exekutiven Kompetenzen versehene europäische Grenzschutzeinheit", mit nationalen Grenzschutzbeamten sowie direkt bei der Agentur angestellten Grenzschützern. Gemeinsam mit EUROPOL und EUROJUST und in Kooperation mit militärischen Apparaten übernahm sie den Grenzschutz völlig, unterstützt durch Rüstungsunternehmen, Forschungsinstitute und NGOs.
Kaspareks Rekonstruktion der heutigen Grenzsituation unterstreicht, dass sich der Prozess der europäischen Integration gerade nicht als Gründungsprozess eines Nationalstaats kontinentalen Ausmaßes beschreiben lässt. Vielmehr, so schreibt er, ist die praktische Konstituierung und Überwachung der Grenzen gekennzeichnet von tiefgreifenden Transformationen der historischen Begriffe Staatlichkeit, Souveränität und Territorium und revolutioniert ihre Bedeutung im Übergang ins neue Jahrtausend. Europäisierungsprozesse im 21. Jahrhundert bilden damit eine neue Gouvernance-Mentalität: Vielzählige von politischen Prozessen unabhängige Agenturen vernetzen sich miteinander ohne nationalstaatliche und demokratische Regulierung.
Kaspareks akribische Analyse seines Gegenstands Frontex ist so relevant, dass man ihm den soziologischen Dissertationsjargon nachsehen möchte. Was sein Buch nicht zuletzt so reich macht, sind gerade auch die vielen Zitate, Quellen und persönlichen Überlegungen, die der Autor aus seiner Arbeit als Aktivist einfließen lässt. Wer Europas Verfasstheit im 21. Jahrhundert verstehen möchte, kommt an dieser Arbeit nicht vorbei. JENNY HESTERMANN
Bernd Kasparek: Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021. 382 S.
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