Herder ist der Wegbereiter einer modernen Homiletik. Mit seinen Studien zu den semiotischen und rezeptionsästhetischen Bedingungen religiöser Kommunikation hat er der Predigtlehre eine theoretische Basis gegeben, deren Innovationspotential auch heutzutage noch nicht ausgeschöpft ist. Martin Kumlehn geht den Ursachen hierfür nach und zeigt, daß die Unbekanntheit der Herderschen Homiletik in der Art und Weise begründet liegt, wie Herder die Grundlinien seiner Predigtauffassung im Kontext sehr viel weiter ausgreifender Reflexionen explizierte. Die Voraussetzungen des Sprechens und Hörens, des Empfindens und Denkens, der Vorstellung und des Symbolisierens werden von ihm im Rahmen erkenntnistheoretischer sowie sprachphilosophischer Untersuchungen analysiert. Ausgehend von Herders anthropologischen Bestimmungen rekonstruiert Martin Kumlehn, wie Herder die Predigtlehre auf unkonventionelle Weise innerhalb eines zwischen den beiden Polen von Aisthesis und Poiesis ausgespannten Interpretationsrahmens menschlicher Lebens- und Deutungspraxis entworfen hat. Des weiteren stellt er dar, daß die konsequente Anthropologisierung des theologischen Denkens Herder auch dazu veranlaßt hat, die traditionell mit den Begriffen 'Gott' und 'Glaube' bezeichneten Erfahrungszusammenhänge sowie die Bedeutung Jesu und der biblischen Offenbarung für die christliche Religionspraxis neu zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund wird schließlich die religiöse Funktion des pastoralen Berufs näher beleuchtet und nach den wesentlichen rhetorischen Gestaltungselementen bzw. Kunstregeln einer Predigt gefragt, die damals wie heute darauf zielt, Gott zur Sprache zu bringen.