Wie hat sich das Nachdenken über Ungleichheit im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und welche ökonomischen Lehren haben dabei jeweils den Ton angegeben? In seinem neuen Buch widmet sich Branko Milanovic in funkelnden Porträts einigen der einflussreichsten Ökonomen der Geschichte. Im Kontext von Leben und Werk zeichnet er die Entwicklung ihres Denkens über Ungleichheit nach und zeigt, wie sehr sich ihre Ansichten unterschieden haben. Tatsächlich, so Milanovic, kann man nicht von »Ungleichheit« als einem überzeitlichen Konzept sprechen: Jede Analyse ist untrennbar mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden.
Milanovic führt uns von François Quesnay und den Physiokraten, für die soziale Klassen gesetzlich vorgegeben waren, zu Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx, die Klasse als eine rein ökonomische Kategorie betrachteten. Er schildert, wie Vilfredo Pareto Klasse als Unterscheidung zwischen einer Elite und dem Rest der Bevölkerung rekonstruierte, während Simon Kuznets das Stadt-Land-Gefälle als Ursache der Ungleichheit ausmachte. Und er erklärt, weshalb die Ungleichheitsforschung während des Kalten Krieges ins Hintertreffen geriet und warum sie heute wieder ein zentrales Thema der Wirtschaftswissenschaften ist. Eine brillante neue Geschichte des Nachdenkens über Ungleichheit.
Besprechung vom 15.10.2024
Buch für Buch
In Deutschland erscheinen mehrere Tausend neue Sachbücher im Jahr. Mit welchen Themen befassen sich die Wirtschaftstitel 2024? Eine kleine Auswahl zum Start der Frankfurter Buchmesse.
Alles ist Information
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat sein drittes Buch zur Erklärung des Menschen vorgelegt. Im ersten Band "Sapiens" befasst er sich mit dem Menschen als Geschöpf und warum gerade er die Welt dominiert. Im zweiten Band "Homo Deus" betrachtet er den Menschen als Schöpfer, der in dieser Welt eben im Gegensatz zu allen anderen Lebensformen Substanzielles erschafft. Im nun herausgekommenen dritten Band "Nexus" denkt er darüber nach, wie sich Künstliche Intelligenz wohl auswirken könnte, wenn sie so schnell weiterentwickelt wird, wie das in den vergangenen Jahren der Fall gewesen ist. Harari geht wieder weit zurück in der Zeit und beschreibt Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis in die Gegenwart - Netzwerke, die Zusammenleben ermöglichen, orientieren, verändern. Information ist auch der zentrale Begriff, mit dem er historische Episoden aus dem Römischen Reich und dem Mittelalter, die katholische Kirche oder die Zeit der Weltkriege in das Denkmodell der Informatik übersetzt: Alles ist Information oder letzten Endes Informationsverarbeitung. Alles Lebende, angefangen vom Virus bis zum Menschen. Und eben auch das nun kommende Künstliche, sozusagen die anorganischen Akteure. Bisweilen übertreibt er dabei, was KI kann. Lesenswert ist aber auch dieser Band des begabten Erzählers allemal. ala.
Yuval Noah Harari: Nexus - Eine kurze
Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Penguin Verlag, München 2024, 656 Seiten, 28 Euro.
Dunkle Seite der Energiewende
Das Metall Kobalt ist ein unverzichtbares Element für den Bau wiederaufladbarer Lithium-Ionen-Batterien, die in Smartphones, Tablets, Notebooks sowie in E-Bikes und Elektroautos zum Einsatz kommen. Der Großteil des weltweit abgebauten Kobalts stammt aus der Demokratischen Republik Kongo. Ein großer Teil der Produktion wird von chinesischen Unternehmen kontrolliert. In seinem Buch "Blutrotes Kobalt" beschreibt der Autor Siddhart Kara ungeschminkt, unter welch erbärmlichen Arbeitsbedingungen dort Kobalt geschürft wird mit Kinderarbeit und Gewalt. Das Buch wirft damit auch ein schockierendes Licht auf eine Schattenseite der Energiewende, die oft ausgeblendet wird.
Für seine Recherche über die intransparente Lieferkette des Kobalt-Abbaus ist Siddhart Kara mehrfach nach Kongo gereist und hat mit Arbeitern, Minenbetreibern und Regierungsvertretern gesprochen. Auch Musterminen, in denen Kobalt angeblich unter sauberen und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen geschürft wird, seien kein Garant für eine humane Produktion. Über die wahre Herkunft des Kobalts werde oft getrickst und getäuscht, schreibt Kara, die Transporte aus den abgelegenen Gegenden werden kaum überwacht. F.A.Z.
Siddharth Kara: Blutrotes Kobalt. Der Kongo und die brutale Realität hinter unserem Konsum. Harper Collins Deutschland, Hamburg 2024, 352 Seiten, 26 Euro.
Wenn KI auf Biotech trifft
Mustafa Suleyman ist heute KI-Chef von Microsoft. Er hat sich als Technologievordenker einen Namen gemacht. Einst war er Mitgründer des britischen KI-Unternehmens Deepmind, das später von Google übernommen wurde. In seinem Buch "The Coming Wave" erzählt er anschaulich von den Verheißungen der Künstlichen Intelligenz. Er zeichnet dabei zugleich ein düsteres Bild von deren Gefahren im Zusammenspiel mit anderen technologischen Entwicklungen. Seine Prognose: Im kommenden Jahrzehnt werden die Kosten für viele neue Technologien rasant sinken und für die breite Masse erschwinglich. Das führe einerseits zu bisher nicht gekannten technologischen Sprüngen und zu Wohlstand, andererseits könnten auch bösartige Akteure in die Lage versetzt werden, Instabilität und sogar Katastrophen auszulösen. Die kommende Welle werde besonders von zwei zentralen Allzwecktechnologien geprägt: Künstlicher Intelligenz und synthetischer Biologie. Als Beispiel nennt er handliche DNA-Synthesizer, die Menschen heute schon für 25.000 Euro kaufen könnten und zu Hause in der eigenen Biogarage "ohne Einschränkungen und Aufsicht" verwendet werden könnten. Suleyman ist höchst besorgt, ob die Menschheit die damit verbundenen Risiken einhegen und kontrollieren kann. Er glaubt, gerade Technologiebegeisterte würden die Risiken der neuen Technologien teils ignorieren und kleinreden. tine.
Mustafa Suleyman und Michael Bhaskar: The Coming Wave - Künstliche Intelligenz, Macht
und das größte Dilemma des 21. Jahrhunderts. C.H. Beck, 388 Seiten, 28 Euro.
Echtheit als Erfolgsfaktor
Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind die prägenden Themen dieses Jahrhunderts. Die fundamentalen Entwicklungen, die mit ihnen verbunden sind, laufen unter dem Begriff Transformation. Ihre Tragweite hat der österreichische Publizist Wolf Lotter frühzeitig erkannt. Nach vielen Langessays und Büchern zu unserem Zeitalter eines tiefen kulturellen Wandels hat er in seinem jüngsten Buch "Echt" die Rolle von Authentizität darin untersucht. Wie man es von ihm gewohnt ist, hält er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Westeuropäische Manager hätten den Schlüssel zum Überleben ihrer Unternehmen aus der Hand gegeben. Das meiste, was in dieser Epoche des Wandels erfolgreich sei, ob die Elektroautos von Tesla oder die Konzertauftritte von Taylor Swift, habe mit dem Bedürfnis des Publikums nach Echtheit zu tun. Unternehmen hätten es aber versäumt, diesen Anspruch sicherzustellen, indem sie für den schnellen Umsatzerfolg andere an ihrem Alleinstellungsmerkmal teilhaben ließen. Das alles ist von einer mitreißenden Tiefe, unterfüttert durch viel wirtschaftshistorisches Verständnis und lebendige Beispiele. Wie die Pizza oder die Tomatensoße zeigen, ist auch das, was sich als echt erleben lässt, im Wandel begriffen. Erfolg habe, wer wie Italiener solche Einflüsse von außen zum Teil der eigenen Identität mache. pik.
Wolf Lotter: Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien, Econ Verlag, Berlin 2024,
224 Seiten, 23 Euro.
Memoiren des Altkanzlers
Mehr als 45 Jahre nach dem Tod von Ludwig Erhard sind in diesem Jahr unter Mitverantwortung der Ludwig-Erhard-Stiftung die Memoiren des zweiten deutschen Bundeskanzlers erschienen. Wie kommt das? Geschrieben wurden die Memoiren im Jahr 1976 nicht von Erhard persönlich, sondern von einem Ghostwriter - und zwar vom gelernten Journalisten und späteren Bundesminister Hans "Johnny" Klein. In dessen Nachlass hat der Bonner Historiker Ulrich Schlie die Memoiren nun wiederentdeckt. Klein war einst pressepolitischer Referent von Ludwig Erhard und ganz nah an ihm dran während seiner Kanzlerschaft. Erhard hat ihn mit dem Schreiben seiner Erinnerungen betraut - der Altkanzler kannte auch das fertige Manuskript, doch er starb 1977 noch vor der geplanten Veröffentlichung, und der Text verschwand daraufhin für Jahrzehnte im Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung. Warum genau, ist nicht ganz klar; offenbar war Erhards Büroleiter Karl Hohmann mit einigen Passagen unzufrieden, die sich mit Franz Josef Strauß befassen, den er zu positiv dargestellt empfand.
Im Buch geht es weniger um Erhards Erfolge als Wegbereiter der Marktwirtschaft; im Mittelpunkt stehen die Jahre seiner letztlich gescheiterten Kanzlerschaft von 1963 bis 1966. Wer sich für Politik interessiert, bekommt interessante Einblicke, auch in die Mechanismen des Zerfalls einer Koalition - mit Parallelen zu heute. tine.
Ludwig Erhard: Meine Kanzlerzeit - Erfahrungen für die Zukunft. Econ Verlag, Berlin 2024, 336 Seiten, 23 Euro.
Wie Rohstoffe die Wirtschaftsgeschichte prägen
In seinem Buch "Material World" wagt der britische Wirtschaftsjournalist Ed Conway einen ungewöhnlichen Blick auf die Geschichte der Menschheit. Er analysiert, welchen Einfluss sechs eigentlich profane Rohstoffe auf den Lauf der Menschheitsgeschichte gehabt haben: Dabei geht es nicht um wertvolle Edelmetalle wie Gold, Platin und Silber, sondern um Sand, Eisen, Salz, Öl, Kupfer und Lithium, also um jene Rohstoffe, die in fast allen Dingen stecken, die wir im Alltag gebrauchen. Laut Conway sind diese sechs Substanzen der Schlüssel zur Geschichte und auch entscheidend für die Zukunft. Conway beschreibt in seinem lehrreichen Buch, wie die genannten sechs Rohstoffe über das Schicksal von Imperien entschieden haben. "Der Drang, Bodenschätze zu gewinnen, war immer einer der stärksten Triebkräfte der Menschheit", schreibt Conway. Für sein Buch und die immer wieder eingestreuten Reportage-Elemente reiste Conway um die Welt und besichtigte Bergwerke, Raffinerien und Fabriken. Wenn heutzutage ständig davon gesprochen werde, dass Ideen und immaterielle Daten die eigentlich bedeutenden neuen Rohstoffe wären, werde allzu schnell vergessen, auf welchen materiellen Grundlagen die neue scheinbar immaterielle Welt der Informationstechnologie basiere. Die Vorstellung, die Menschheit werde sich von physischen Materialen unabhängig machen, sei trügerisch. Im Gegenteil: Unser Bedarf an Rohstoffen aus der Erdkruste wachse immer weiter. F.A.Z.
Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024, 544 Seiten, 26 Euro.
Der Fall Wunderwuzzi
Der Zusammenbruch des Signa-Imperiums im Sommer 2023 ist einer der größten Wirtschaftsskandale der vergangenen Jahre. Dessen Schöpfer René Benko galt in Österreich als "Wunderwuzzi" - als Person, die quasi aus dem Nichts heraus einen milliardenschweren Immobilienkonzern geschaffen hat. Die beiden österreichischen Journalisten Rainer Fleckl und Sebastian Reinhart haben in "Inside Signa" Aufstieg und Fall Benkos lesenswert und faktenreich nachgezeichnet. Sie beschreiben seine luxuriösen Empfänge in der Villa Ansaldi am Gardasee, zu denen er Showgrößen wie den Sänger Xavier Naidoo für ein stattliches Salär einfliegen und auftreten ließ. Es entsteht das Bild eines jungen Mannes aus einfachen Verhältnissen, aber mit natürlichem Charme und Charisma ausgestattet, der sein Verkaufstalent beim umstrittenen Finanzberater AWD schleift. Der anschließend ein prominentes Investorennetzwerk aufbaut von Wendelin Wiedeking über Roland Berger und Klaus-Michael Kühne bis zu Robert Peugeot, von denen einige rechtzeitig abspringen, weil sie Zweifel hegen, andere bis zum Schluss an Benko glauben. Die Autoren beschreiben, wie Benko die ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz und Alfred Gusenbauer für seine Zwecke einspannt und ein weit verzweigtes Konstrukt aus Unternehmen und Stiftungen schafft, durch das sich die Insolvenzverwalter noch heute ihren Weg bahnen. svs.
Rainer Fleckl und Sebastian Reinhart: Inside Signa - Aufstieg und Fall des René Benko. Verlag edition a, Wien 2024, 240 Seiten, 24 Euro.
Erforscher der Ungleichheit
Der frühere Chefökonom der Weltbank, Branko Milanovic, beschreibt in seinem neuen Buch, wie unterschiedlich große Ökonomen in der Wirtschaftsgeschichte auf die soziale Ungleichheit geblickt haben. Es ist auch ein Buch über die Geschichte des ökonomischen Denkens seit der Französischen Revolution bis zum Ende des Kommunismus. Die Schriften sechs großer Ökonomen werden vorgestellt: Es beginnt mit dem Physiokraten François Quesnay im vorrevolutionären Frankreich, danach werden Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, Vilfredo Pareto und Simon Kuznets jeweils in einem Kapitel abgehandelt, bevor es am Ende um die Frage geht, warum die Ungleichheitsforschung im Kalten Krieg nur ein Schattendasein fristete, jüngst aber wieder aufblüht. Das Buch gibt Einblicke, für welche Art von Ungleichheit sich die Ökonomen in ihrer Schaffenszeit interessiert haben und auch für welche nicht: die zwischen Klassen, zwischen Individuen, zwischen Stadt- und Landbevölkerung oder zwischen den Geschlechtern? Heute haben Wissenschaftler teilweise bessere Einblicke in die Ungleichheit von damals als die Ökonomen in ihrer Zeit, weil viele Daten damals noch nicht öffentlich zugänglich waren. tine.
Branko Milanovic: Visionen der
Ungleichheit - Von der Französischen
Revolution bis zur Gegenwart, Suhrkamp, Berlin 2024, 443 Seiten, 34 Euro.
Von Frauen und "gierigen" Stellen
Claudia Goldin ist eine echte Promiökonomin: Harvard-Professorin und Wirtschaftsnobelpreisträgerin. Dabei ist sie auf ein Gebiet voller kontroverser Debatten spezialisiert. Sie erforscht die Rolle von Frauen im Arbeitsmarkt und die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern. Ihr Buch "Karriere und Familie", das 2024 auch in deutscher Sprache erschienen ist, erzählt die 100 Jahre lange Geschichte hoch qualifizierter Karrierefrauen in Amerika und beschäftigt sich mit den Langfristkonsequenzen von Mutterschaft für Aufstieg und Gehalt. Dabei teilt Goldin Berufe in "gierige" (also zeitfressende, Spontaneität fordernde, wenig familienfreundliche, aber gut bezahlte) und "weniger gierige" (schlechter bezahlte) Stellen. Diese Zweiteilung schaffe Anreize für eine geringe Gleichstellung innerhalb von Partnerschaften. Trostlos mutet die Analyse aber nicht an, dagegen sprechen schon die vielen historischen Beispiele von bemerkenswerten Karrierefrauen, die gleichzeitig Familien gründeten. Und es werden immer mehr. In dem Buch geht es vor allem um das Verständnis für die Logik, die hinter den Entscheidungen rund um Beruf und Familie steckt: rationale Ökonomie. nab.
Claudia Goldin: Karriere und Familie.
Der jahrhundertelange Weg der Frauen zu mehr Gleichberechtigung, Propyläen Verlag, Berlin 2024,
400 Seiten
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