Besprechung vom 17.09.2024
Wie viel Heimat passt in einen Körper?
Russenmenschen sind hier unerwünscht: Ljuba Arnautovic beendet ihre Romantrilogie über eine Familie im Zangengriff der Diktaturen
Karl ist ein Gezeichneter. Gesicht, Körper und Seele tragen Narben eines schweren Schicksals. Das will er abschütteln, nie wieder Opfer sein, immer nach oben, wo die Macht ist. Auf seine Töchter aus der ersten seiner vier Ehen nimmt er dabei wenig Rücksicht. Auch sie werden noch Teile der Last schultern, die das zwanzigste Jahrhundert mit seinen Diktaturen in den Rucksack dieser Familie gepackt hat. Waren die ersten beiden Bücher der in Wien lebenden Ljuba Arnautovic ihrer Großmutter ("Im Verborgenen", 2018) und dem Vater ("Junischnee", 2021) gewidmet, stehen im neuen Roman sie selbst und ihre Schwester im Mittelpunkt, von allen die schwierigste Schreibaufgabe, berichtet die Autorin in einem Interview.
Die Geschichte beginnt lange vor der Geburt der Mädchen. Tausende flohen vor den Nazis in Deutschland und den Faschisten in Österreich in die Sowjetunion, nicht ahnend, dass sich das sicher geglaubte Exil schon bald in ein Martyrium durch die Kreise der stalinistischen Hölle verwandeln sollte. Erst Jahrzehnte später, nach Stalins Tod, konnten jene, die den Terror überlebt hatten, in ihre Heimaten zurückkehren. Die meisten gingen in die sowjetische Besatzungszone, wo sie zum absoluten Schweigen über ihr Schicksal verpflichtet wurden. Christoph Heins Roman "Trutz" (2017) oder der Film "Und der Zukunft zugewandt" (2019) liefern dazu eindringliche Zeugnisse. Auch Österreicher kehrten in ihre Heimat zurück, ein Land, das bis heute unter politischer Amnesie mit Blick auf die Verbrechen der NS-Zeit leidet und die Rückkehrer in den Fünfzigerjahren wenig willkommen hieß. Zu ihnen gehörte auch Karl Arnautovic. 1934 wurde er als Neunjähriger gemeinsam mit dem älteren Bruder Slavko von seinen im Republikanischen Schutzbund aktiven und im Austrofaschismus verfolgten Eltern in die Sowjetunion geschickt. Im Strudel der Gewalt der Dreißigerjahre konnte die Mutter den Kindern schon nicht mehr folgen, dem jüdischen Vater gelang die Flucht über Prag ins britische Exil.
Das Ferienlager auf der Krim und das Internat in Moskau erscheinen den Brüdern zunächst paradiesisch, bis sich das Blatt nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion dramatisch wendet. Slavko wird unter dem berüchtigten politischen Paragraphen verhaftet und brutal ermordet, der siebzehnjährige Karl bald darauf zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Lager lernt er die wegen einer Banalität dorthin verbannte Russin Nina kennen, was ihm nach seiner Entlassung 1953 die Übersiedlung in deren Heimatstadt Kursk ermöglicht. Hier wird 1954 seine Tochter Luna geboren. Da auch Mutter und Großmutter Erstgeborene waren, werden dem Mädchen nach slawischem Volksglauben besondere Kräfte zugesprochen. Schon bald übersiedelt die Familie nach Wien, wo Karl nach zwanzig Jahren seine von Folter und Gefängnis gezeichnete Mutter wiedertrifft. Mit dem Einzigen, was er beherrscht, der russischen Sprache, etabliert er sich geschickt als Dolmetscher für Wirtschaft und Politik.
Als die zweite Tochter Lara geboren wird, ist er schon auf dem Absprung in eine neue Ehe, ausgerechnet mit der einstigen Jugendliebe seines Bruders aus Moskauer Zeiten. Nach einem Intermezzo bei der Verwandtschaft in Kursk entzieht der Vater die Kinder dem Sorgerecht der russischen Mutter, die in Wien nie heimisch wird. Sie werden kurzerhand in ein evangelisches Kinderheim verfrachtet. Dort herrschen noch der Drill und die Gefühlskälte der dunklen Nazi-Jahre. Lara, die Jüngere, wird gezwungen, ihr Essen bis zum Erbrechen in sich hineinzuwürgen, um dann auch noch das Erbrochene herunterschlucken zu müssen. Dagegen wirkt die Erziehung der Stiefmutter Erika, die nach Jahren des Hungers und der Kälte im sowjetischen Kasachstan keine Kinder bekommen kann, liebevoll. Doch auch hier herrscht ein strenges Regime, es muss ständig gepaukt werden, schließlich soll aus den Kindern etwas werden. Kaum haben sich die Kinder in Wien zwischen den beiden Haushalten von Mutti, sprich Stiefmutter, und den zweiwöchigen Wochenendbesuchen bei Mama, sprich russischer Mutter, eingewöhnt, steht der nächste Karriere- und Ehesprung des Vaters an. Nun ist es eine um viele Jahre jüngere Medizinstudentin, die ihm den sozialen Aufstieg in die bessere Gesellschaft Münchens sichern soll. Aus der Geschichte von Luna, dem Alter Ego der Autorin, und Lara wird nun die eines doppelten Lottchens. Während Luna in München im bürgerlichen Milieu des Vaters bleibt, zieht es Lara zurück nach Wien zu ihrer leiblichen Mutter, die als Haushälterin bei einem grobschlächtigen, gewalttätigen Ukrainer lebt, vor dem die Tochter sie zunehmend schützen muss.
Wie schon in den Vorgängerromanen wird auch hier mit frappierender Lakonie und emotionaler Distanz in kurzen, oft die Jahre und Jahrzehnte überspringenden Kapiteln erzählt, stenographisch, skizzenhaft, immer von außen. Es ist erstaunlich, wie viele Schicksale, Tragödien, Heimatverluste in hundertsechzig kurzweilig zu lesenden Buchseiten Platz finden. Da bleibt viel Raum zum Deuten und Interpretieren dieser oft unnahbar erscheinenden Menschen und ihrer seelischen Konflikte. Luna wird zu ihren Wurzeln zurückfinden, Russisch studieren und sich in einen in Moskau lebenden Ukrainer verlieben, zu dem sie regelmäßig auf abenteuerliche Weise per Zug mit ihrem Baby reist, da ihr Mann nicht aus der Sowjetunion ausreisen darf. Lara wird ihre Herkunft als "Russenmenscher", wie die Kinder sie im Wiener Karl-Marx-Hof schimpften, abstreifen und in ein österreichisches Bilderbuchleben mit Haus auf dem Lande eintauchen. Die Schwestern entfernen sich mehr und mehr voneinander, bis der Vater, der die erzählerische Zentrifugalkraft bleibt, sie wieder zusammenführt. In den wilden Neunzigerjahren des russischen Raubtierkapitalismus ist er geschäftstüchtig zurück in Moskau - mit Ehefrau Nummer vier, einer jungen Russin - und dort scheinbar in windige Geschäfte verwickelt.
In einer mehr als vertrackten, unübersichtlichen Notlage, aus der die Töchter ihn zu befreien suchen, kommt hoch, was nie vergessen werden konnte. Seine Zeit im Lager, sein Dasein als "Dieb im Gesetz", als Teil einer kriminellen Gang, die ihm einst das Überleben sicherte. Alles geht sich noch einmal glimpflich aus und endet, wie könnte es in Wien anders sein, mit schmunzelndem Schmäh auf einem Friedhof. SABINE BERKING
Ljuba Arnautovic: "Erste Töchter". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2024. 160 S., geb.
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