Man muss sich wundern: Wurde bisher tatsächlich der Fluchthelfer Varian Fry in der deutschen Geschichte so gut wie vergessen? Wittstock ruft mit seinem Buch nicht nur diesen mutigen und engagierten Journalisten in die Erinnerung zurück, sondern auch die unmenschlichen Zustände, denen die Kulturelite Deutschland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ausgesetzt war. Marseille 1940 ist ein markantes Eckdatum, denn hier sammeln sich die Unerwünschten und Entarteten, die zunächst ins sicher geglaubte Frankreich (sehr beliebt: Sanary-sur-Mer) geflohen waren und sich dann von der heranrückenden Wehrmacht in Marseille sammelten in der Hoffnung auf Ausreise.
Wittstocks Buch bedient sich an einer Fülle von Quellen und entscheidet sich für einen Episodenstil, ähnlich wie in Winter 1933 und für eine chronologische Darstellung. Seine kurzen Darstellungen schneidet er wie in einem Film mit Statements zur politischen Lage. Wie mit einem Schlaglicht nimmt er Monat für Monat das Schicksal der Flüchtlinge und ihrer Helfer in den Blick. Das wirkt unruhig und erschwert die Konzentration des Lesers, aber auf der anderen Seite wird damit die rasant steigende Bedrohung der Geflüchteten deutlich. Und er erreicht damit diese ganz besondere Mischung eines Sachbuchs mit Protagonisten, die wie Romangestalten wirken, aber keine sind.
Wittstock konzentriert sich auf einige wenige Größen, allen voran Lion Feuchtwanger, erfolgreich und international bekannt, oder den frankophilen Heinrich Mann und seinen Neffen Golo, Hannah Arendt und ihren Ehemann, Max Ernst, Marc Chagall, Andrè Breton, die unbeirrbar stalintreue Anna Seghers und andere. In seinen Episoden sorgt er für Empörung und Mitleid, wenn er z. B. die barbarische Situation in den südfranzösischen Lagern und zugleich die Untätigkeit der französischen Exilregierung schildert. Er sorgt aber auch für Kopfschütteln, wenn er das Schicksal Rudolf Breitscheids und Rudolf Hilferdings erzählt, die sich wider besseres Wissen auf ihren internationalen Ruf und einen französischen Rechtsstaat verlassen. Auch heitere Episoden fehlen nicht, wenn man liest, dass Alma Mahler-Werfel mit 12 Koffern flüchtete und es tatsächlich schaffte, diese 12 Koffer in die USA mitzunehmen.
Im Mittelpunkt steht natürlich Fry, aber Wittstock vermeidet die Zeichnung eines Helden, sondern zeigt ihn in all seiner Widersprüchlichkeit und vor allem immer als Teil einer Gruppe. Deutlich wird auch, wie sehr die Arbeit von Frys Organisation auf Geld angewiesen wird, und ebenso deutlich wird das Problem, dass Fry nicht jeden retten kann, sondern auswählen muss. Die bürokratischen Hürden werden immer höher und die Fluchtwege immer komplizierter, und sehr anschaulich beschreibt Wittstock die mühsame Flucht zu Fuß auf geheimen Pfaden über die Pyrenäen, die die Geistesgrößen durchstehen müssen.
Wittstock vergisst nicht die französischen Kollaborateure der Gestapo, aber vor allem vergisst er nicht die vielen Menschen wie Grenzsoldaten, Verwaltungsbeamte und dörfliche Nachbarn, die mit persönlichem Mut Tragödien verhinderten. Ein wohltuendes Beispiel menschlicher Solidarität.
Dieses spannende und informationsreiche Buch lege ich nicht nur Literaturfreunden ans Herz, sondern vor allem den Unbelehrbaren und Geschichtsvergessenen unserer Tage. Dazu darf ich Magnus Brechtken (Vom Wert der Geschichte) zitieren: Wir können, wenn überhaupt, NUR aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns ... nicht verfügbar.